Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Nabelschnur zu kontinentaleuropäischen höfischen Romanen, «wahren Geschichten» und fantasievollen Reiseberichten und brachte die frühesten englischen Romane hervor (Robinson Crusoe, Gullivers Reisen, Samuel Richardsons Pamela und Henry Fieldings Tom Jones), dicht gefolgt von einigen frühen Bewerbern um den Titel des «ersten historischen Romans».
Am Anfang stehen die Schauergeschichten wie zum Beispiel Horace Walpoles Die Burg von Otranto (1764), deren Vergangenheit weniger eine historische Rekonstruktion als eine surrealistische Traumlandschaft ist. Ann Radcliffes «elaborierterer» Roman Udolphos Geheimnisse (1794) gewann eine so große Leserschaft, dass Jane Austen die gothic romance schon vier Jahre später in Northanger Abbey parodieren konnte. Maria Edgeworths Meine hochgeborene Herrschaft (1800) verfolgt vier Generationen anglo-irischer Aristokraten bis ins Jahr 1782 und kann mit einigem Recht von sich behaupten, der erste moderne historische Roman der Kategorie «Familiensaga» zu sein. Mit Walter Scotts auflagenstarken Waverley-Romanen (ab 1814) bekam das Genre gewissermaßen ein Manifest: «Wenn ich zu diesem Entzweck die Zeit meiner Geschichte 60 Jahre vor dem gegenwärtigen ersten November 1805 datire, so glaube ich dadurch meinen Lesern zu verstehen gegeben zu haben, daß sie auf den folgenden Seiten meines Werkes, weder einen Ritterroman, noch eine Darstellung moderner Lebensweise finden werden; daß mein Held nicht Eisen auf seiner Schulter trägt, wie weiland, noch an den Absätzen seiner Stiefeln, wie dies jetzt in Bondstreet Mode ist; und daß meine Damen, weder ‘in Purpur prangen, und im schleppenden Talar’, wie Lady Alice … nach einer alten Ballade, noch zur ursprünglichen Nackheit des Paradieses zurückgekehrt sind, wie eine neumodische geschmackvolle Visitendame.» Scott mied also auf alt getrimmte Balladendichtung und versprach stattdessen historische Genauigkeit und ein flottes Garn.
Es spielt keine Rolle, dass Scotts historische Genauigkeit manchmal ebenso reich ornamentiert war wie die zum Besuch von George IV. in Edinburgh kreierten Schottenröcke der Clans: Die Kilts wurden getragen, und Scotts Version der schottischen Geschichte bekam für Jahrzehnte gleichsam kanonischen Rang. Fünfzehn Jahre nach Scotts Tod brachte ein anderer Romanschriftsteller mit kommerziellem Riecher Barnaby Rudge heraus (ebenfalls sechzig Jahre nach den darin geschilderten Ereignissen, den Gordon-Aufständen von 1780). Charles Dickens’ zweiter Anlauf zu einem historischen Roman, Eine Geschichte zweier Städte, hat heute eine Gesamtauflage von mehr als zwei Millionen Exemplaren und ist damit der meistverkaufte Roman aller Zeiten und Genres. Sobald sich die Schleusentore des zwanzigsten Jahrhunderts öffnen, kann man nur noch Lieblingsbücher aus einem mächtigen, nicht enden wollenden Strom benennen (darunter die zwölf Gewinner des Booker-Preises, die nach Scotts Sechzig-Jahres-Regel als historische Romane gelten dürfen): Patrick O’Brians Aubrey-Maturin-Romane; Robert Graves’ Ich, Claudius, Kaiser und Gott; George MacDonald Frasers Flashman-Serie; Sarah Waters; Beryl Bainbridge; Hilary Mantel; Rose Tremains Des Königs Narr; Pat Barker; Sebastian Faulks Gesang vom großen Feuer; William Goldings To the Ends of the Earth-Trilogie (Äquatortaufe, Die Eingepferchten, Fire Down Below).
Wie erklärt sich nun die anhaltende Beliebtheit historischer Romane? Ein Grund dafür ist, dass sie ein Stereo-Narrativ liefern: Ein Sprecher steuert den Diskant der eigentlichen Romanhandlung bei, der andere den Bass des historischen Geschehens. Ein zweiter Grund ist genealogisch: Wenn die Geschichte der Stammbaum der Gegenwart ist, wirft ein historischer Roman vielleicht ein ganz anderes Licht auf die zeitgenössische Welt als eine trockene historische Abhandlung. Das Ass des Romans ist das subjektive Erleben, ein Vorteil oder Nachteil, je nachdem, wie die Karte ausgespielt wird und wer man ist - Margaret Mitchells Vom Winde verweht kann die Vergangenheit auf grandiose Weise wieder aufleben lassen, aber auch eine katastrophale Karikatur sein. Ein dritter Grund für die Beliebtheit des Genres ist schlicht, dass die Bedürfnisse des menschlichen Leibes und der menschlichen Seele zwar weitgehend gleich bleiben, die Gesellschaften, in denen Menschen leben, sich über die Jahrhunderte und die Kulturen hinweg jedoch dramatisch unterscheiden, und es an sich schon faszinierend ist zu sehen, wie Menschen - Menschen,
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