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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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die wir hätten gewesen sein können, wären wir damals geboren worden - unter anderen Herrschaftssystemen und anderen Gesetzen lebten.
    Warum schreibt man einen historischen Roman? Die Motive von Schriftstellern sind ebenso vielfältig wie die von Verbrechern, aber ich vermute, dass in der Erbsubstanz des Autors oder der Autorin historischer Romane die Geek-Gene des Modellbauers enthalten sind - die penible Rekonstruktion einer verlorenen Welt kann durchaus Spaß machen. Ein zweiter Grund ist banal, wird aber meist übersehen: Ein Roman muss irgendwo und «irgendwann» spielen, und die Auswahl beschränkt sich auf die Gegenwart, die Zukunft und die Vergangenheit. Ein drittes Motiv ist die Herausforderung (und das perverse Vergnügen), die damit verbundenen Schwierigkeiten in Angriff zu nehmen, zuvörderst die Recherche. Filmemacher stellen reumütig fest, dass die Produktionskosten für jedes zusätzliche Filmzeit-Jahrzehnt in der Vergangenheit um x Millionen Dollar steigen. Beim Verfassen von Romanen gilt dasselbe Prinzip, aber statt Dollar lies «Monate».
    Wer historische Romane schreibt, muss in Erfahrung bringen, wie die gewaltige Bandbreite menschlicher Bedürfnisse in der «Zielperiode» befriedigt wurde: Wie beleuchtete und beheizte man Räume? Wie wurden Mahlzeiten zubereitet, Kleider gefertigt, Füße beschuht, Entfernungen überwunden, Verfehlungen geahndet, Krankheiten erklärt; wie badete man (oder auch nicht), wie freite man seine Liebste, wie verhütete man, auf welche Weise wurden Gottheiten verehrt und Leichen entsorgt? Doch je mehr Notizbücher man mit den Früchten der Recherche füllt, umso entschlossener muss man sie verbergen: Sätze wie «Soll ich Jenkins bitten, die Phaeton-Kutsche vorzubereiten, oder würden Madame die zweirädrige Chaise mit dem Faltdach vorziehen?» sind tödlich.
    Und dann muss man sich Gedanken über die Sprache machen. Bei einem historischen Roman, der nicht zur Gänze aus indirekter Rede besteht (leichter verdauliche Blisterpackung), müssen die Figuren irgendwann den Mund aufmachen, und wie reden sie dann? Das ist das «lest» gegen «in case»-Dilemma: Das Bindewort «in case» (wie in «eat now in case we don´t have time later» - «iss jetzt, kann sein, dass wir später keine Zeit dazu haben») riecht nach modernem Englisch, aber eine «korrekte» Übersetzung in Smolletts Englisch («Eat on the nonce, My Boy, lest no later opportunity presents itself» - etwa: «Iss nur sogleich, mein Sohn, bevor sich am Ende keine spätere Gelegenheit mehr bietet») schmeckt, im Jahr 2010 geschrieben, unecht und nach Pastiche. Sie schmeckt nach Blackadder, um die Wahrheit zu sagen, und davon könnte nur ein Masochist 500 Seiten vertragen. In gewissem Maße muss der Autor historischer Romane also eine Art Jargon erschaffen - ich nenne ihn «Bygonese» -, der ungenau, aber plausibel ist. Wie eine Antikeffekt-Lasur auf einer nagelneuen Kommode ist er zwar synthetisch, aber auch die am wenigsten schlechte Lösung.
    Im Allgemeinen benutzt man öfter «shall» als «will»; Konditionalsätze tauchen auf (wie in «Had I but seen him, I would have shot him stone dead» - «Hätt´ ich ihn doch gesehen, ich hätt’ ihn mausetot geschossen»); und die von alten Schulleiterinnen missbilligten Kontraktionen - wie z.B. «gonna» - werden vermieden. Kaum hat man sein Bygonese dann perfektioniert, wartet der Anachronismus schon darauf, es zu ruinieren. Für jedes augenfällige Tabu (ein feudalistischer Burgenbauer, der sich beklagt: «Die Schwerkraft ist nicht auf unserer Seite!») schlüpfen einem andere Schnitzer durch: Die Lektoren und Korrektoren meines Romans haben eine ganze Wagenladung gefunden. Manche waren verzeihlich: Das Verb «to con», wie in «betrügen», taucht 1889 zum ersten Mal im Druck auf, sagt das vom Himmel gesandte Online Etymology Dictionary. Andere waren schon peinlicher, zum Beispiel «brinkmanship» («Spiel mit dem Feuer»): Autsch, das ist ein Begriff aus dem Kalten Krieg.
    Die amerikanische Schriftstellerin Jessamyn West, eine Quäkerin, schrieb über die Tyrannei der Tradition: «Treue gegenüber der Vergangenheit kann eine Art Untod sein … Über die Vergangenheit zu schreiben, ist eine Auferweckung; die Vergangenheit lebt in den Worten, und man ist frei.» Frei - nun ja, ich weiß nicht, aber ich mag Wests ernsten Ton und das Wort «Auferweckung»: Wer historische Romane verfasst, plündert nicht nur die Menschheitserzählung, die wir Geschichte nennen, nach

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