Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
international sehr erfolgreich. Haben Sie damit gerechnet, dass ihn so viele gern lesen?
Dass ihn so viele lesen, ist schön, und es ermahnt mich einmal mehr, den Leser niemals zu unterschätzen. Aber wenn man etwas schreibt, denkt man wenig daran, wie es wohl aufgenommen wird. Diesen Luxus kann man sich gar nicht leisten. Man denkt nur daran, wie man das Buch am besten hinbekommt, und da reduziert sich alles auf einen einzigen Leser - mich selbst, und vielleicht noch meine Frau. Wenn man es dann so destilliert hat und es gefällt einem, funktioniert es hoffentlich auch für andere.
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Über den historischen Roman
von David Mitchell
Um Weihnachten 1994 herum stieg ich in Nagasaki an der falschen Haltestelle aus der Straßenbahn und stieß auf einen grünlichen Wassergraben und eine Ansammlung von Lagerhäusern aus einem früheren Jahrhundert. Dies war meine erste Begegnung mit Dejima, der entlegensten Handels-«Faktorei» der Niederländischen Ostindien-Kompagnie, ihrem exklusivsten Besitz und größten Stolz: Während der zweieinhalb Jahrhunderte der japanischen Isolationspolitik war diese von Menschenhand geschaffene Insel im Hafen von Nagasaki, nicht größer als der Trafalgar Square, die einzige Verbindung mit dem Westen gewesen. Nachdem die Japaner ab den Fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts andere Häfen für den internationalen Handel geöffnet hatten, kam Dejima herunter, doch nun ist eine vollständige Rekonstruktion im Gange.
1994 hatte ich als Schriftsteller noch nichts veröffentlicht, aber der Ort knisterte geradezu vor erzählerischem Potential, und zwölf Jahre später begann ich selbst, Dejima in einem Buch zu rekonstruieren, das nun unter dem Titel «Die tausend Herbste des Jacob de Zoet» erschienen ist. Dabei ging es mir nicht etwa darum, aus reinem Spaß an der Freude einen historischen Roman zu schreiben - dazu müsste man verrückt sein. Vielmehr konnte das Buch nur in diesem Genre geschrieben werden. Da es mein erstes war, las ich mehrere andere historische Romane, um mich nicht groß mit längst gelösten Problemen herumschlagen zu müssen. Schön wär’s gewesen, aber immerhin weckte die Lektüre in mir eine neue Hochachtung vor einem Genre, das manchmal mit blauhaarigen alten Damen und in Liverpool spielenden Epen der Kategorie «Vom Tellerwäscher zum Millionär» assoziiert wird. Bei allem Respekt vor Liverpool, aber der historische Roman hat doch etwas ältere Wurzeln.
Ein gewiefter Anwalt am Genre-Gerichtshof könnte schon in frühmittelalterlichen Texten wie Sankt Brandans Meerfahrt Elemente der historischen Fiktion finden. Dieser lateinische Bericht aus dem achten Jahrhundert vermengt «Tatsachen» betreffs Brendan von Clonfert, mittelalterlichen Schiffbau und (isländische?) Vulkane mit ausgeflippteren Elaboraten wie dem von Psalmen singenden Vögeln oder einem Gespräch mit Judas Ischariot. Das Problem besteht in der Frage, ob der gebildete Autor der Meerfahrt historische Fakten aufzuzeichnen glaubte oder ob er in der Vergangenheit angesiedelte Parabeln schuf. Die Angelsächsische Chronik konfrontiert uns mit ähnlichen Mehrdeutigkeiten, indem sie eine nüchterne Geschichte Britanniens seit vorrömischer Zeit mit ein paar blumigeren Behauptungen vermischt - etwa, König Alfred stamme in direkter Linie von Baldur ab, dem Sohn des nordischen Gottes Odin.
Bis ins vierzehnte Jahrhundert hinein sind viele der noch existierenden «Knüller» in der oder zumindest in einer Vergangenheit angesiedelt, z.B. Sir Gawain und der Grüne Ritter (England der Artus-Zeit) sowie Teile von Geoffrey Chaucers Erzählung des Ritters (Theben und Athen in der Antike) und Erzählung des Rechtsgelehrten (König Aellas Northumbrien). Aber waren diese Erzählungen für ihre zeitgenössischen Leser wirklich auf dieselbe Art «Geschichte», wie der Krim-Krieg für uns Geschichte ist? Oder ähnelten sie eher den Erzählungen aus den blitzsauberen mittelalterlichen Dörfern der bunten Märchenbücher für Kinder? Meines Erachtens entstand das auf «Einfühlung» angelegte Genre der historischen Fiktion, als Shakespeare und seine Zeitgenossen sich Hintergründe, Namen und Handlungsfäden aus Quellen wie Raphael Holinsheds Chronicles borgten und diese Bühnenwelten als echt ausgaben. Die dramatis personae wiesen vorgeblich reale Figuren auf, die mit anderen, eindeutig fiktiven Figuren interagierten (und ihnen dadurch Realität verliehen).
Das achtzehnte Jahrhundert durchtrennte die
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