Die Teerose
Obwohl sein Körper fort war, lebte sein Geist in ihrem Herzen weiter. Er war ein Teil von ihr und würde es immer bleiben. Wie Michael gesagt hatte.
Eine Brise wehte ins Zimmer, und diesmal erschauerte sie nicht. Diesmal lächelte sie und stellte sich vor, das sanfte Streicheln des Winds sei Nicks Hand auf ihrer Wange. Sie drückte das Foto an die Brust, schloß die Augen und flüsterte »Danke« für dieses letzte Geschenk an sie.
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U nd damit wünsche ich meinem Bruder James alles Gute«, sagte Joe und prostete seinem Bruder beim Hochzeitsmahl zu. »Und meiner Schwägerin Margaret…«, er hielt inne und fügte mit gespieltem Bedauern im Ausdruck hinzu: »… der schon jetzt meine ganze tief empfundene Anteilnahme gilt.«
Die Gäste reagierten mit Johlen und Pfiffen, die Braut und ihre Schwestern mit Lachen.
»Das ist sehr komisch, Joe«, rief Jimmy durch den Lärm. »Ich hoffe, dein Obst ist frischer als deine Witze. Können wir jetzt essen?«
»Auf Jimmy und Meg!« sagte Joe und erhob sein Glas. »Ein langes Leben, Gesundheit, Reichtum und Glück!«
»Auf Jimmy und Meg!« stimmte die Gesellschaft ein. Gläser klangen, es gab Rufe, der Bräutigam solle die Braut küssen, und noch mehr Gejohle, als er es tat. Als sich Joe umsah, um sicherzugehen, daß die Kellner mit dem Servieren begonnen hatten, wurde er am Ärmel gezupft. Es war sein Großvater, der neben ihm saß.
»Mit dem stimmt was nicht«, sagte der alte Mann und deutete auf sein Glas. »Das ist das komischste Lagerbier, das ich je getrunken hab.«
»Das ist Champagner, Großvater. Aus Frankreich.«
»Franzosenbier? Nicht mein Geschmack, wenn du mich fragst. Was spricht denn gegen ein Fuller’s, Junge?«
Joe bat einen Kellner, seinem Großvater ein Glas Bier zu holen. Einen anderen wies er an, weiteren Champagner auszuschenken. Seine Gäste hatten die Gläser geleert und riefen nach mehr. Einem dritten trug er auf, noch Brot zu bringen. Dann setzte er sich zum erstenmal an diesem Tag.
Joe richtete das Hochzeitsmahl seines Bruders in seinem Haus in Greenwich aus und wollte, daß alles perfekt war. Es war sein Geschenk an das Paar. Er mochte seine Schwägerin sehr, die aus einer mittellosen Händlersfamilie in Whitechapel stammte, und wollte ihr einen schönen Tag bescheren. Schon im Morgengrauen waren die Lieferanten und Floristen eingetroffen, um den Ballsaal seiner georgianischen Villa zu schmücken, aber sobald die Sonne aufging, sah er, daß es ein strahlender Tag werden würde, und ließ alles nach draußen bringen. Der Ballsaal war schön, aber nichts im Vergleich zur Schönheit seines Gartens.
Joes Anwesen war ein von sanften Hügeln und fruchtbaren Obstgärten umgebenes Herrenhaus, das am Südufer der Themse stand. Überall gab es uralte Eichen, Kirschbäume, Hartriegel und Kletterrosen. Hinter dem Haus befand sich der Blumengarten, und dort hatte Joe Tische aufstellen lassen. Von hier aus sahen seine Gäste auf blühende Apfel-, Birn- und Quittenbäume und den dahinterliegenden Fluß.
Als er den Blick umherschweifen ließ, ohne sein eigenes Essen anzurühren, allein auf das Wohl seiner Gäste bedacht, mußte er lächeln. Sein Vater verzehrte gerade ein Stück rosafarbenen Lachs und unterhielt sich dabei mit seinem Nachbarn, einem Fischhändler, über die Vorzüge der schottischen Räuchermethoden im Gegensatz zu den norwegischen. Seine Schwester Ellen, deren Mann Großhändler auf dem Fleischmarkt von Smithfield war, schenkte dem Schinken ein anerkennendes Nicken. Eine andere Nachbarin aus der Montague Street, eine Mrs. Walsh, die sich mit dem Verkauf von Blumen vor den West-End-Theatern ihren Lebensunterhalt verdiente, bewunderte den Tafelschmuck. Joes Cockney-Familie und deren Freunde waren anspruchsvoller und wählerischer, als jeder Graf oder Herzog es gewesen wäre. Als Händler hatten sie klare Vorstellungen, wer bessere Kartoffeln lieferte – die Bauern aus Jersey oder die aus Kent –, welches Futter das beste Steak ergab und wer die besten Erdbeeren produzierte – die Engländer oder die Franzosen. Sie diskutierten genauso lautstark darüber, welcher Fleischer die besten Würste machte und wer den schmackhaftesten Kabeljau briet, wie sich adlige Häupter darüber stritten, in welchem Club das beste Beef Wellington serviert wurde.
»Onkel Joe! Onkel Joe!«
Joe drehte sich um. Ellens Sprößlinge, drei pausbäckige Kinder, kamen auf ihn zu.
»Mama sagt, daß es Kuchen gibt«, begann Ellens Jüngste. »Einen
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