Die Teerose
Sie sah Männer auf dem Heimweg von der Arbeit und hörte, wie sie sich zuriefen oder ihre Kinder begrüßten. Sie sah die Brauerei, wo Charlie einst gearbeitet hatte, und stellte fest, daß sie nicht weit von der Montague Street entfernt war. Plötzlich wurde sie von einer überwältigenden Sehnsucht gepackt, ihr früheres Haus, den Ort, an dem sie aufgewachsen war, wiederzusehen.
»Andrew!« rief sie und klopfte an das kleine Schiebefenster vor sich. »Andrew, halten Sie an!«
Die Kutsche hielt. »Was ist, Mrs. Soames? Was gibt’s?«
»Ich möchte aussteigen, einen kleinen Spaziergang machen und zu Fuß nach Hause gehen.«
»Das können Sie nicht, Ma’am. Sergeant O’Meara hat mir aufgetragen, Sie nicht aus den Augen zu lassen. Er hat gesagt, ich soll Sie zum Friedhof und gleich danach wieder zurückbringen.«
Fiona hörte ihm kaum zu. Sie hatte Whitechapel wiedergesehen mit all seinen Geräuschen und Gerüchen. Es rief förmlich nach ihr. »Sergeant O’Meara erfährt nichts davon, wenn Sie’s ihm nicht sagen, Andrew«, antwortete sie. »Bitte machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich bin zurück, bevor es dunkel wird.« Und schon war sie, trotz seiner Proteste, mit der Tasche in ihrer Hand ausgestiegen.
Als sie die Brisk Lane hinunter verschwand, war sie froh, ältere Kleider zu tragen. Froh über den Schmutz an ihrem Saum und daß sich während der Arbeit ihr Haar gelöst hatte, das sie nur lose und unordentlich wieder zusammengefaßt hatte. Sie eilte dahin, mitgerissen vom Strom der Arbeiter.
Als sie schließlich um die Ecke der Montague Street bog, hielt sie den Atem an. Da war es, ihr Haus. Es sah noch ganz genauso aus. Rußige rote Backsteine und schwarze Läden, blank gescheuerte Treppenstufen. Und gleich daneben Joes Haus. Einen Moment lang war sie wieder siebzehn, auf dem Heimweg von der Teefabrik, in der Hoffnung, er würde bei sich auf der Treppe sitzen und auf sie warten.
Die Straße war voller Leute. Sie ging zwischen den Vätern hindurch, die zum Abendessen heimeilten. Hörte Mütter nach ihren Kindern rufen. Sah kleine Mädchen mit Pferdeschwänzen, ältere mit ihren kleinen Geschwistern auf dem Arm. Eine Schar Jungen spielte Fußball. Einer schoß den Ball durch das offene Fenster von Nummer sechzehn. Ein Knall ertönte. »Ach, meine Teekanne!« rief eine Frau von drinnen. Laut fluchend stürzte der Hausherr heraus. Aber die Jungen waren schon verschwunden, waren in alle Richtungen davongestoben wie eine Schar Spatzen.
Sie wunderte sich über den Lärm und das Gedränge. Auf der Fifth Avenue brüllte nie jemand herum. Zumindest nicht im Norden, wo sie wohnte. Dort spielten keine Kinder mit Bällen oder hüpften Seil. Dort gab es kein gellendes Gelächter von zusammenstehenden Hausfrauen. Kein freundliches Getuschel über eine junge Ehefrau mit dickem Bauch. Keine alten Männer, die mit einem preisgekrönten Haustier angaben.
Er war soviel Leben in diesen Straßen. War ihr das auch früher aufgefallen? Als Mädchen wollte sie bloß immer von hier weg. Warum nur? Nie war sie glücklicher gewesen als hier. In dem schäbigen einstöckigen Haus, wo sie nicht einmal ein eigenes Zimmer besaß, mit einem zugigen Abort im Hinterhof. Sie hatte nichts gehabt, rein gar nichts, und dennoch alles.
Sie erreichte das Ende der Straße und blickte zurück. Fast konnte sie ihren Vater hören, wie er singend von den Docks nach Hause kam. Und ihre Mutter, die, die Hände in die Hüften gestützt, nach Charlie rief. Sie sah den Jungen vor sich, der groß, blond und herzzerreißend attraktiv auf sie zukam, die Hände in die Taschen gesteckt, die ganze Welt in seinen Augen.
Schließlich ging sie weiter und überquerte die Commercial Road. Sie wußte, daß sie von hier aus eine Droschke nach Mayfair zurück nehmen sollte. Er dämmerte bereits, und sie konnte schon die ersten Sterne schimmern sehen. Doch ihre Füße trugen sie nach Süden, in Richtung Wapping, dem Fluß zu. Sie hätte den Weg im Schlaf gefunden – obwohl ein paar Pubs die Namen geändert hatten, ein paar Läden anders gestrichen waren, war ihr alles vollkommen vertraut.
Die Wapping High Street war fast leer, als sie sie überquerte. Oliver’s gab es immer noch, und der Gedanke, daß es jetzt ihr gehörte, war seltsam. Seitlich davon verlief der schmale Durchgang, der zu den Old Stairs hinunterführte, genau wie sie es in Erinnerung hatte. Als sie nun oben auf der Treppe stand und auf den geliebten Fluß hinabsah, der dunkel unterm
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