Die Teerose
Als er sich auf der Hälfte der Stufen niedergesetzt hatte, überkam ihn eine Flut von Erinnerungen. Ihre blauen Augen, die vor Freude aufblitzten, wenn er auf sie zukam. Wie sie roch nach der Arbeit – nach Teeblättern und süßem Schweiß. Wie sich ihre Hand anfühlte in der seinen. Die alte, bekannte Traurigkeit senkte sich über ihn.
Laß gut sein, Joe, sagten alle. Seine Mutter, Cathy, auch Jimmy. Die Vergangenheit ist lang vorbei. Sieh nach vorn.
Aber worauf? Er hatte das Kostbarste besessen – Liebe, wahre Liebe – und weggeworfen. Was blieb ihm noch? Ein Leben zweiter Wahl. Vergangene Träume und schmerzliche Erinnerungen. Er erinnerte sich, wie ihm einst die Stelle bei Petersons’s und Tommys Lob so viel bedeutet hatten. Doch jetzt bedeutete ihm weder sein Erfolg noch das Vermögen, das er verdient hatte, soviel, wie mit dem Mädchen, das er liebte, hier auf diesen Stufen zu sitzen. Nur sie zwei, die nichts besaßen als ein paar Pfund in einer zerbeulten Kakaodose und ihre Träume.
Alf hat recht, dachte er und wickelte sein Abendessen aus. Da ist ein Geist. Ein einsamer Geist mit gebrochenem Herzen. Der Geist von allem, was hätte sein können.
Er sah auf die Boote hinaus, die leicht an der Vertäuung rüttelten. Die Nacht hatte sich herabgesenkt, und silberne Mondstrahlen lagen über den sanften Wellen. Der Himmel war voller Sterne. Sein Lieblingsstern funkelte magisch. Er war heller und leuchtender, als er ihn je gesehen hatte. Sein Blick wanderte zum unteren Ende der Old Stairs. Wie viele Male war er hierhergekommen, um sie dort zu finden, wo sie die Wellen beobachtete und träumte?
Als er weiter hinunterstarrte, stellte er fest, daß auf der untersten Stufe etwas lag. Er beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. Es war ein Paar schwarzer Stiefel. Damenstiefel. Einer stand aufrecht, der andere war umgefallen. Daneben lag ein Bündel, das wie Strümpfe aussah.
O Gott, dachte er alarmiert. Hoffentlich ist kein armes Mädchen ins Wasser gegangen. Er wußte, daß Selbstmörder oft die Stiefel am Ufer zurückließen, damit sie jemand fand, der sie brauchen konnte. Ein trauriger kleiner Nachlaß. Sein Blick suchte das Flußufer ab. Etwa zwanzig Meter zu seiner Linken sah er sie. Eine schlanke barfüßige Frau, die in der Nähe der Stützpfeiler stand. Sie kehrte ihm den Rükken zu, aber er sah, daß sie Steine übers Wasser warf, einen nach dem anderen, heftig und schnell. Das Mondlicht glänzte auf ihrem schwarzen Haar, als sie sich niederbeugte, um weitere aufzuheben. Er entspannte sich. Ein verzweifelter Mensch würde keine Steine werfen.
Dennoch fragte er sich, was sie um diese Zeit allein am Fluß machte. Es war nicht gerade der sicherste Ort für eine Frau. Fasziniert von ihren anmutigen Bewegungen beobachtete er sie. Er sah, daß sich ihr Haar gelöst hatte und daß ihr Kleidersaum durch den Schlamm streifte. Plötzlich flog ein Wasservogel auf. Bei seinem Schrei hob sie den Kopf. Er sprang auf. Sein Essen fiel aus seinem Schoß auf die Stufen. »Das kann nicht sein«, flüsterte er.
Es war ein Trugbild. Es lag an diesem Ort, an all den Erinnerungen. Sein sehnsuchtsvolles Herz und die Dunkelheit spielten ihm einen Streich. Aber seine Augen sagten ihm, daß es kein Trugbild war. Er sprang die Stufen hinunter und ging auf sie zu. Voller Hoffnung. Voller Angst. Dergleichen war ihm früher schon passiert. So viele Male. Er entdeckte eine schlanke, dunkelhaarige Frau und wurde wie magisch von ihr angezogen, doch sie drehte sich um und richtete fragende, kühl blickende Augen auf ihn, die nie, niemals die ihren waren.
Ganz langsam ging er näher auf sie zu, weil er sie nicht erschrekken wollte, und erinnerte sich an ein Mädchen, das einst mit schlammverschmutztem Saum hier gestanden und geschworen hatte, einmal sehr reich zu werden.
Als sie seine Schritte auf den Steinen knirschen hörte, drehte sie sich erschrocken um und sah ihn mit großen Augen an. Und dann hörte er, wonach er sich seit zehn Jahren gesehnt hatte … den Klang ihrer Stimme, die seinen Namen rief.
»Joe? Mein Gott … bist du’s?«
Wie erstarrt blieb Fiona stehen. Sie nahm nichts wahr, nicht das trunkene Gelächter aus dem Pub, nicht das Eintauchen der Ruder eines vorbeifahrenden Fährboots. Sie spürte nichts, nicht das Flußwasser, das gegen ihre Füße schwappte, nicht die Nachtbrise, die ihre Röcke rascheln ließ. Sie sah nichts, nichts außer Joe.
»Bist du’s wirklich?« flüsterte sie und berührte mit
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