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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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von den Lukentüren abgerissen. Also, vor ein paar Tagen war ich gerade auf dem Heimweg – es war schon spät – und hab zufällig zu dem Gebäude hinaufgesehen. Ich weiß, das klingt komisch, aber ich hab einen Mann dort stehen sehen. In einer der Luken. Ich war so verblüfft, daß ich über einen Pflasterstein gestolpert und fast hingefallen bin. Als ich wieder aufgesehen hab, war er fort.«
    »Wie hat er ausgesehen?«
    »Er hatte ein hartes, blasses Gesicht. Und dunkles Haar. Und seine Augen, an die erinner ich mich genau. Wie der Fluß um Mitternacht. Wenn ich an Geister und solchen Blödsinn glauben würde, würd ich sagen, es war dieser Finnegan, der aus dem Jenseits zurückgekommen ist und jetzt hier rumspukt.«
    Joe sah Alf skeptisch an. »Sie haben einen Geist gesehen, sagen Sie?«
    Alf zuckte die Achseln. »Ich sag gar nichts.«
    »Vermutlich war’s der Nachtwächter auf seiner Runde.«
    »Da gibt’s keinen Nachtwächter. Der letzte hat gekündigt, nachdem dort alles zusammengeschlagen worden ist.« Alf hob die Hände. »Ich weiß, was Sie denken, Chef, aber ich war so nüchtern wie der Papst, das schwör ich.«
    »Ich seh auf dem Heimweg selber nach und grüß ihn schön von Ihnen, wenn ich ihn treffe.«
    Alf ging auf Joes scherzenden Tonfall nicht ein. »Der kam mir nicht sonderlich freundlich vor«, antwortete der alte Mann. »Wenn Sie ihn sehen, würd ich Ihnen raten, lieber einen Zahn zuzulegen.«
    Alf und Joe beendeten die Inspektion der neuen Schiffsladung und schnitten gelegentlich Säcke auf, um den Inhalt zu überprüfen. Als sie zufrieden waren, verabschiedete sich Joe und erinnerte Alf daran, daß am Montag morgen die Leute aus der Rösterei kämen. Alf murmelte, daß er nicht erinnert zu werden brauche und daß Joe nicht glauben müsse, er habe einen Sprung in der Schüssel, weil er Geister sehe.
    Als Joe in Richtung Westen die High Street hinunterging, warf er einen Blick auf die oberen Stockwerke von Oliver’s. Er sah nichts. Bloß Luken. Einige mit Läden davor, einige ohne. Geister, dachte er und schüttelte den Kopf. Die einzigen Geister, die Alf plagten, kamen aus der Whiskeyflasche in seiner Hosentasche. Während er zu dem Gebäude hinaufstarrte, fragte er sich, warum William Burton die Schäden nicht hatte reparieren lassen, als ihm plötzlich einfiel, daß es ihm ja gar nicht mehr gehörte. Es gehörte einer Frau namens Soames. Fiona Finnegan-Soames.
    Er versuchte, den Gedanken zu verscheuchen. Es tat so weh, daß sie hier in London gewesen war und daß sie selbst jetzt, nach zehn Jahren und verwitwet, immer noch nichts mit ihm zu tun haben wollte. Er hatte in den Zeitungen über sie gelesen. Voller Hoffnung war er in ihr Hotel gegangen. Seit der Nacht, als Roddy zu ihm gekommen und ihn um Hilfe gebeten hatte, hatte er nicht anders gekonnt, als wieder Hoffnung zu schöpfen. Wenn sie nur miteinander hätten reden können. Wenn er nur Gelegenheit gehabt hätte, ihr zu sagen, wie leid ihm alles tat, wie sehr er sie immer noch liebte. Er hätte alles getan, um eine zweite Chance zu bekommen. Alles, damit sie ihm vergab.
    Aber das würde nicht geschehen. Er hatte sie verlassen, als sie ihn am meisten brauchte. Sie allein im Elendsviertel von Whitechapel ihrem Schicksal überlassen. Sie der Gnade von Bowler Sheehan und William Burton ausgeliefert. Sie hatte ein großes Herz, aber nicht groß genug, um ihm zu verzeihen, was er getan hatte. Ein so großes Herz hatte niemand.
    Als er vor dem Lagerhaus stand, ging die Tür des Town of Ramsgate auf. Ein Mann kam heraus, zog die Mütze und ging weiter. Die üblichen Pub-Gerüche wehten ihm nach – Rauch, Bier und Essen. Joe bemerkte, daß er hungrig war. Er beschloß, hineinzugehen und sich etwas zu essen zu bestellen. Das würde ihn ablenken.
    Er bestellte Schellfisch und Chips und, während er wartete, ein Glas Bitterbier. Er mußte sein Glas festhalten, weil sich die Männer eng um die Bar drängten und kein Tisch frei war. Es war Freitagabend, und das Lokal war mit Arbeitern und Seeleuten gefüllt. Er fragte die Bedienung, ob es oben Tische gebe, aber sie meinte, dort sei es noch schlimmer. Am besten sei es, sagte sie, wenn er sein Essen draußen auf den Old Stairs verzehre. Sie würde es für ihn einpacken, wenn er wolle.
    Die Old Stairs. Die hatten ihm gerade noch gefehlt – genau der richtige Ort, um die Gedanken an Fiona zu verscheuchen. Er leerte sein Glas, nahm sein Essen – ein heißes, fettiges Paket – und ging nach draußen.

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