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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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ihnen schon zu lange ferngeblieben.
    Während sie arbeitete, hatte sie den Friedhof fast ganz für sich allein. Zwei alte Damen, die Blumen niederlegen wollten, gingen vorbei und grüßten leise, ebenso eine junge, schwarzgekleidete Mutter mit ihrem kleinen Sohn. Dann schlenderten zwei junge Männer, die Hände in den Taschen vergraben, vorbei. Ab und zu blieben sie stehen und sahen sich die Grabsteine an. Sie warf ihnen einen kurzen Blick zu und beobachtete, wie sie auf Markierungen deuteten oder mit den Füßen Unkraut wegtraten. Als sie das zweite Mal aufsah, waren sie näher gekommen. Viel näher.
    »Sehen hübsch aus, die Rosen«, sagte einer.
    »Danke«, erwiderte Fiona und blickte wieder auf. Es waren junge, kräftig gebaute Burschen. Sie trugen enge Hosen, kragenlose Baumwollhemden, Westen und rote Halstücher. Ihre Gesichter zeigten Spuren von Schlägereien – einer hatte eine Narbe, dem anderen war offensichtlich die Nase gebrochen worden.
    »Wir suchen nach seinem Großvater«, sagte letzterer und deutete auf seinen Gefährten, »finden ihn aber nicht.«
    »Wie hieß er denn?« fragte Fiona.
    »Was?«
    »Sein Name. Was steht auf dem Schild?«
    »Smith, Tom Smith. Wie ich heiß«, sagte der zweite.
    Fiona sah auf die Schilder neben sich, aber auf keinem stand »Smith«. »Ich glaub nicht, daß er hier liegt.«
    »Wie ist denn der Name?« fragte Tom Smith und deutete auf das Schild ihres Vaters.
    »Patrick Finnegan«, antwortete Fiona. »Mein Vater.«
    »Ach, wirklich?« erwiderte Tom. Er trat neben sie, um auf das Schild zu sehen, so nahe, daß Fiona den Rauch in seinen Kleidern und den Bierdunst in seinem Atem riechen konnte. Plötzlich spürte sie Angst in sich aufsteigen. Roddy hatte ihr von den zwei Männern erzählt – Burtons Männern –, die nach ihr gesucht hatten, als sie im Krankenhaus lag. Was, wenn es diese hier waren? Dann entdeckte sie Andrew. Er stand nur fünf oder sechs Meter entfernt und beobachtete jede Bewegung der beiden. Auch sie sahen ihn. Tom Smith tippte an den Rand seiner Mütze. Andrew, die Hände vor der Brust verschränkt, nickte mit starrem Gesicht zurück.
    »Na, wir seh’n uns weiter um. Irgendwo muß er ja liegen. Bestimmt ist er nicht aufgestanden und davonmarschiert, oder?« sagte Tom grinsend. »Wiederseh’n, Missus.«
    »Wiederseh’n«, antwortete Fiona und kam sich albern vor. Es waren bloß zwei freundliche junge Burschen, die ihr nichts Böses wollten. Vermutlich war der eine von seiner Mutter hergeschickt worden, um das Grab seines Großvaters zu säubern. Roddys ständige düstere Warnungen machten sie nervös. Sie beschloß, nicht mehr daran zu denken, und machte sich wieder an ihre Arbeit, nachdem die beiden den Friedhof verlassen hatten. Andrew kehrte zu seiner Kutsche zurück.
    Als sie fertig war, breitete sie ein Tuch auf dem Boden aus, nahm eine Thermosflasche mit Tee und ein paar Sandwiches aus ihrem Korb und setzte sich eine Weile zu ihrer Familie. Während sie aß, erzählte sie ihr alles, was ihr passiert war. Von ihrem Besuch in William Burtons Büro vor vielen Jahren, von New York, von Michael, Mary und ihrer ganzen umfangreichen Familie. Von William und Nick. Von Seamie, den sie nicht mehr erkennen würden, weil er inzwischen ein echter Amerikaner geworden war. Eines Tages würde er eine Entdeckung machen, dessen sei sie sich sicher. Die Heilmethode für eine Krankheit, einen Dinosaurier oder vielleicht ein ganz neues Land. Er sehe gut aus, sagte sie, genauso gut wie einst Charlie. Sie könnten stolz sein auf ihren Bruder, genauso stolz, wie sie es war.
    Und dann erzählte sie ihnen, wie sie William Burtons Firma übernommen hatte. Er sei ruiniert, sagte sie, und sobald man ihn verhaftet habe, käme er ins Gefängnis und dann an den Galgen. »Es ist nicht genug, Pa«, sagte sie und legte die Hand aufs Grab ihres Vaters. »Aber hoffentlich ein bißchen was. Ich hoffe, es hilft dir, ein wenig friedlicher zu ruhen.«
    Sie blieb noch eine Weile still sitzen und beobachtete die Abendsonne, die durch die Bäume schien und Lichtsprenkel auf das Gras malte, dann erhob sie sich und versprach, nicht mehr zehn Jahre zu warten, bevor sie wieder zurückkam.
    Sie rief nach Andrew, und sie packten ihre Gerätschaften wieder in die Kutsche. Er half ihr hinein, schloß die Tür hinter ihr und lenkte dann seine Pferde durch die engen Straßen von Whitechapel zurück nach Mayfair. Als Fiona aus dem Fenster blickte, sah sie vertraute Straßenschilder und Gebäude.

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