Die Teerose
aber er besaß Bärenkräfte und zog sie hinter sich her, bis sie im dritten Stock ankamen, wo noch keine Reparaturarbeiten vorgenommen worden waren. Teile zerschmetterter Teekisten bedeckten den Boden, vor den Luken befanden sich keine Türen. Er stieß sie zu einer der Öffnungen, stellte sich hinein, stützte sich mit der linken Hand an dem Backsteinbogen ab und hielt sie mit dem rechten Arm im Würgegriff.
»Bleibt zurück!« rief er. »Bleibt zurück, oder ich springe und nehm sie mit!«
Fiona konnte sich kaum rühren, schaffte es aber, den Kopf weit genug zu drehen, um den strudelnden Fluß unter sich zu sehen. Sie standen an der östlichsten Luke, direkt an der Ecke des Gebäudes, wo unten der Kai endete. Wenn sie fiel, konnte sie nur hoffen, nicht den Rand zu treffen, sondern im Wasser zu landen.
»Du wirst keine Chance haben zu springen, Burton, weil ich dich vorher umbringe.« Es war Roddy. Er hatte eine Pistole und zielte auf Burtons Kopf.
»Laß sie los. Es ist vorbei«, sagte Joe und ging auf sie zu.
Fiona spürte, wie der Griff um ihren Hals fester wurde. Sie sah auf Joe, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Burton brauchte nur einen Schritt nach hinten zu tun, und sie würde Joe nie mehr wiedersehen.
Roddy brüllte noch immer. Joe redete weiter und kam immer näher. Fiona sah, daß seine Worte zwar Burton galten, seine Augen jedoch auf sie gerichtet waren. Sie spürte, wie er sie anflehte, stark zu sein, den Kopf nicht zu verlieren. Sie nickte ihm zu, dann sah sie, wie er den Blick schnell nach rechts wandte. Einmal. Zweimal. Sie folgte seinem Blick und entdeckte einen großen Eisenring in der Mauer, der zum Festbinden von Seilen diente.
Joe kam näher. Roddy brüllte lauter. »Du springst nicht, du Scheißkerl! Du bringst jeden um, der dir in den Weg kommt, aber dich selbst bringst du nicht um!«
»Bleibt stehen!« schrie Burton, und seine Blicke schossen zwischen Roddy und Joe hin und her. »Kommt nicht näher!«
»Jetzt, Fiona!« rief Joe.
Mit letzter Kraft holte Fiona aus und packte den Ring. Im selben Moment warf sich Joe auf Burton und riß seinen Arm von ihrem Hals. Die beiden Männer kämpften miteinander. Burton wich einen Schritt zurück, aber sein Fuß trat ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht. Seine Hände suchten nach Halt, um sich festzuklammern.
Und fanden Joe.
»Neiiin!« schrie Fiona, als beide Männer aus der Luke stürzten. Sie warf sich nach vorn, aber starke Arme packten sie und rissen sie zurück.
»Nein, Fiona, nein!« rief Roddy und zog sie weg.
Mit irrem Blick und laut schreiend, schlug sie auf ihn ein und versuchte, sich loszureißen.
»Komm jetzt!« schrie er. »Wir müssen raus, sonst schaffen wir’s nicht mehr!«
Er zerrte sie durch den Raum. Rauch drang in dicken Schwaden durch die Dielen. Der zweite Stock brannte. Flammen züngelten an der Treppe. Als sie den ersten Stock erreichten, sahen sie, daß die Treppe zum Erdgeschoß von Flammen eingeschlossen war.
»Lauf! Lauf, so schnell du kannst!« rief Roddy und ließ sie los. »Das ist die einzige Möglichkeit!«
Den Kopf mit den Händen schützend, taumelte Fiona durchs Feuer. Sie hörte lautes Prasseln, spürte brennende Hitze und stechenden Schmerz an den Beinen, dann war sie draußen, und ein Dutzend Hände schlugen auf ihre Kleider ein.
Sie drängte sich an Polizisten und Umstehenden vorbei, lief zu den Old Stairs, rannte die Steinstufen hinab und erreichte das Flußufer, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Etwas riß sie nach vorn, in den Schlamm und das Wasser hinein. Ein paar Sekunden lang konnte sie nichts sehen und hören und ihre Glieder nicht bewegen. Wasser drang ihr in Mund und Nase. Dann kam sie mit einem Schlag wieder zu sich. Hustend und spuckend richtete sie sich auf und sah zurück. Die Old Stairs waren fort, weggerissen. An ihrer Stelle lagen ein Trümmerhaufen und brennende Balken. Wo die Westwand von Oliver’s gestanden hatte, klaffte ein riesiges Loch, mindestens zwei Stockwerke hoch. Rauch und Flammen schossen daraus hervor. Weder das Town of Ramsgate noch die Gasse, die von den Old Stairs zur Straße führte, waren zu sehen. Wo war Roddy? War er bei seinen Polizisten geblieben? Oder ihr nachgerannt?
»Roddy!« rief sie und begann, sich in Richtung Ufer zurückzubewegen. »Onkel Roddy!«
»Fiona! Alles in Ordnung?« Die Stimme war kräftig, klang aber weit entfernt. Sie mußte von der anderen Seite des Schuttbergs kommen. »Es sind die Gasleitungen! Komm zurück,
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