Die Teerose
Türen gingen auf, und die Mädchen strömten heraus, aber sie war nicht darunter. Er wartete, bis das letzte Mädchen herausgekommen war und noch ein wenig länger, falls sie noch kehrte oder ihre Sachen zusammenpackte. Aber dann kam der Vorarbeiter heraus, schloß hinter sich ab, und es hatte keinen Zweck, länger zu warten.
Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn, aber er sagte sich, daß es eine Erklärung dafür geben mußte. Er würde es bei Jackson’s versuchen. Vielleicht hatte sie bei Burton’s gekündigt, um nur noch im Pub zu arbeiten. Aber dort war sie auch nicht. Und weder der Barmann noch das Mädchen, das die Tische abwischte, hatten je von ihr gehört. Das Mädchen erklärte ihm, die Jacksons seien im Moment nicht da, weil sie Mrs. Jacksons kranke Mutter besuchten, kämen aber in etwa einer Stunde wieder zurück. Er könne warten, wenn er wolle. Er wollte nicht.
Jetzt fühlte er sich noch unbehaglicher. Er wußte, daß Fiona am Tag seiner Hochzeit krank gewesen war. Ein Fieber, hatte seine Mutter ihm gesagt. Was, wenn sie sich nicht erholt hatte? Wenn sie krank war und nicht arbeiten konnte? Von Panik ergriffen, begann er, in Richtung Adams Court zu rennen. Mrs. Finnegan wäre böse auf ihn, und Charlie würde ihm einen Tritt in den Hintern versetzen. Vielleicht ließen sie ihn gar nicht zu ihr. Aber egal. Sie würden ihm sagen, ob es ihr gutging. Er mußte sich versichern, daß es ihr gutging. Sie hat das Geld, unsere Ersparnisse, sagte er sich. Das war genug, um ihre Familie durchzubringen. O bitte, laß es ihr gutgehen, betete er. Er eilte durch den Torbogen, der von der Dorset Street zum Adams Court führte, dann die schmale Gasse entlang und wollte gerade an die Tür von Nummer zwölf klopfen, als die Tür aufging, eine erstaunte junge Frau mit einem Baby auf dem Arm herauskam und fragte, was er wolle.
»Ich möchte zu den Finnegans«, stieß er atemlos hervor. »Zu Fiona. Ist sie zu Hause?«
Die Frau sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Die Finnegans?«
»Ja. Können Sie Fiona für mich holen, Missus?«
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Joe Bristow. Ich bin Fionas … ich bin ein Freund von ihr.«
»Ich weiß nicht, wie ich’s Ihnen sagen soll, aber die Finnegans … sie wohnen nicht mehr hier.«
Joe bekam Angst. »Wohin sind sie gegangen? Ist was passiert? Es ist was passiert, nicht wahr? Geht’s Fiona gut?«
»Kommen Sie lieber rein.«
»Nein, sagen Sie mir, was passiert ist!« rief er, die Augen vor Angst weit aufgerissen.
»Es ist besser, wenn Sie reinkommen«, sagte die Frau. »Bitte.« Sie packte ihn am Ärmel und zog ihn durch den kurzen Flur in ein Zimmer an dessen Ende. Sie bat ihn, auf dem einzigen Stuhl im Raum Platz zu nehmen, und setzte sich mit dem Baby auf dem Schoß aufs Bett. »Ich bin Lucy Brady«, begann sie, »ich war Kates Nachbarin, bevor …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie Sie davon nichts gehört oder gelesen haben. Es war in allen Zeitungen.«
»Was soll ich gehört haben? Sagen Sie’s mir, Mrs. Brady, bitte.«
Lucy schluckte. »Es ist ein Mord passiert. Es war der Ripper«, antwortete sie. »Er hat eine Frau in Nummer zehn umgebracht, Frances Sawyer. Es war spätnachts, aber die Polizei nimmt an, daß Kate ihn gesehen hat. Sie war auf dem Weg zum Arzt, ihr Baby war krank. Und der Ripper hat sie … auch umgebracht. O Gott, es tut mir so leid, daß ich Ihnen das sagen muß.«
Joe begann, am ganzen Körper zu zittern. Er spürte eine namenlose Angst in sich. Eine Angst, die ihm das Blut gefrieren ließ. »Hat er … Fiona …«
»Sie hat ihre Mutter gefunden.« Lucy schloß die Augen. »Das arme Mädchen, die Nacht werde ich nie vergessen, nicht solange ich lebe.«
»Wo ist sie jetzt?« fragte er ein wenig erleichtert.
»Als letztes hab ich gehört, daß sie bei einem Freund der Familie lebt. Er ist Polizist.«
»Roddy. Roddy O’Meara.«
»Ja, das kann sein. Er hat für sie und ihren kleinen Bruder gesorgt.«
»Was ist mit Charlie und dem Baby?«
»Beide tot. Das Baby gleich nach der Mutter und der Junge kurz darauf. Er ist von einem Kampf zurückgekommen, hat seine Mutter gesehen und ist weggelaufen. Man hat ihn aus dem Fluß gefischt.«
Joe bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Mein Gott«, flüsterte er. »Was hab ich ihr angetan. Hab sie hier in diesem Loch zurückgelassen. Hab sie diesem …«
»Was haben Sie, Mr. Bristow?« fragte Lucy.
Joe hörte sie nicht. Wie betäubt, kaum fähig zu atmen,
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