TODESSAAT
ERSTES KAPITEL
»Harry.« Darcy Clarkes Stimme am Telefon klang ausgesprochen nervös, obwohl er sich offensichtlich bemühte, seine Unruhe unter Kontrolle zu halten. »Wir haben ein Problem, zu dessen Lösung wir Hilfe benötigen. Die Art von Hilfe, die du uns gewähren könntest.«
Harry Keogh, der Necroscope, wusste möglicherweise, was den Chef des britischen E-Dezernats beunruhigte, und es mochte vielleicht sogar mit seiner Person zusammenhängen. »Was ist los, Darcy?«, fragte er mit sanfter Stimme.
»Mord ist los!«, antwortete der andere mit bebender Stimme. »Ein schrecklicher, blutrünstiger Mord, Harry! Mein Gott, ich habe so etwas noch nie erlebt!«
Darcy Clarke hatte wirklich schon einiges erlebt, wie Harry genau wusste. Deshalb mochte er kaum glauben, was er da gehört hatte. Außer natürlich, Clarke sprach von ...
» Meine Art von Hilfe, hast du gesagt?« Harrys ganze Aufmerksamkeit galt nun dem Telefon. »Darcy, willst du mir damit sagen, dass ...?«
»Was?« Clarke verstand im ersten Moment nicht, wovon Harry redete, doch dann wurde es ihm klar. »Nein, nein – das war kein Vampir, Harry! Aber ganz gewiss eine Art von Ungeheuer. Oh ja, menschlich genug, aber eben auch ein Ungeheuer.«
Harry entspannte sich ein wenig, allerdings nur ein kleines bisschen. Früher oder später hatte er einen Anruf vom E-Dezernat erwartet. Und dieser mochte es jetzt sein, worauf er gewartet hatte: eine clevere Falle. Andererseits ... Darcy war auch sein Freund, und Harry glaubte nicht, dass er bei einem Komplott mitmachen würde, ohne vorher in jeder Einzelheit nachzuprüfen, ob es so und nicht anders sein musste. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Darcy mit der Armbrust, der Machete und einem Kanister Benzin auf ihn losgehen würde. Nein, zuerst würde er mit ihm sprechen und Harrys Standpunkt erfahren wollen. Aber ...
... Der Dezernatsleiter wusste mittlerweile beinahe genauso viel über Vampire wie Harry. Und ihm war auch klar, dass es keine Hoffnung gab. Sie waren Freunde gewesen und hatten auf der gleichen Seite gekämpft, also glaubte Harry, dass es nicht Darcys Finger am Abzug sein werde. Aber dafür würde mit Sicherheit jemand anders abdrücken.
»Harry?« Clarke war wirklich nervös. »Bist du noch dran?«
»Wo steckst du, Darcy?«, wollte Harry wissen.
»Im Dienstraum der Militärpolizei in der Burg«, sagte der andere ohne zu zögern. »Sie haben ihre Leiche unterhalb der Mauern gefunden. Beinahe noch ein Kind, Harry. Achtzehn oder neunzehn. Sie wissen bisher noch nicht einmal, wer sie ist. Das würde ja schon bei den Ermittlungen helfen. Aber vor allem wollen wir wissen, wer so etwas getan hat!«
Wenn es einen Mann gab, dem Harry Keogh vertrauen konnte, dann war es Darcy Clarke. »In einer Viertelstunde bin ich da«, sagte er.
Clarke seufzte. »Danke, Harry! Wir wären dir dankbar.«
»Wir?«, fuhr Harry ihn an. Er konnte das Misstrauen in seinem Tonfall nicht verbergen.
»Was?« Clarke hörte sich überrascht an. »Na – selbstverständlich die Polizei. Und ich!«
Mord. Die Polizei. Überhaupt kein Thema für das Dezernat. Was hatte Clarke damit zu tun – falls das Ganze keine Finte war? »Wie haben die dich denn rangekriegt?«
Mit einem Mal schien sich sein Gesprächspartner ... ertappt zu fühlen, nervös. »Ich ... ich war hier, um einer alten schottischen Tante einen Pflichtbesuch abzustatten. Ich sehe sie sonst nur selten. Sie liegt seit zehn Jahren im Sterben, aber sie ist zäh und will sich nicht hinlegen. Heute sollte ich ins Hauptquartier zurückkehren, aber dann hat sich diese Sache ergeben. Das Dezernat hatte sich bereits bemüht, die Polizei zu unterstützen – und nun das. Es geht um eine Serie von grauenhaften Morden, Harry!«
Eine alte schottische Tante? Von der hatte Harry noch nie etwas gehört. Andererseits mochte dies eine gute Gelegenheit sein, herauszufinden, ob sie etwas von seinem ... Problem ahnten. Harry wusste, dass er äußerst vorsichtig vorgehen musste; er kannte das E-Dezernat zu gut, um nicht ins offene Messer zu rennen. Ja, und sie wussten ohnehin zu viel über ihn. Aber vielleicht doch nicht alles. Noch nicht!
»Harry?«, erklang Clarkes Stimme wieder, ein wenig blechern und dünn. Die Leitungen waren wohl nicht sehr gut. »Wo können wir uns treffen?«
»Auf dem Platz oberhalb der Royal Mile«, grollte der Necroscope. »Und, Darcy ...«
»Ja?«
»... ach, nichts. Wir unterhalten uns später.« Er legte auf und ging zurück in die
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