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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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einen Namen und eine Adresse auf einen Zettel, reichte ihn Joe und trug ihm auf, dem Mann zu sagen, Constable O’Meara habe ihn geschickt. Sobald er etwas höre, solle er sofort zu ihm kommen. Er brachte Joe zur Tür, und obwohl er ihm nicht die Hand gab, wünschte er ihm Glück. Und einen Moment lang glaubte Joe, außer Zorn und Sorge noch etwas anderes in Roddys braunen Augen zu entdecken. Trauer. Um ihn.
     
    Um zehn Uhr nachts war es an den Straßenständen auf dem Markt von Covent Garden unheimlich still. Die runden Weidenkörbe, in denen die Träger die Waren transportierten, waren hoch aufgetürmt, und ein paar leere Karren standen herum. Hier und dort lagen abgebrochene Blumen oder zertretenes Obst auf den Straßen, und es roch stark nach verfaultem Gemüse. Joe, der gerade nach einem späten Abendessen mit einem Kunden zu seinem Büro zurückspazierte, wunderte sich wieder einmal, daß ein Ort, der am Morgen so laut war, so still und verlassen sein konnte.
    »Joe. Joe Bristow«, rief plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit.
    Joe blieb stehen. Er hatte niemanden gesehen, als er auf den Platz hinaustrat.
    »Hier drüben.«
    Er drehte sich um und sah einen Mann an einer der Eisensäulen lehnen. Die Gestalt kam aus dem Dunkel auf ihn zu. Joe erkannte sie. Es war Stan Christie, ein junger Mann aus Whitechapel. Als kleine Jungen waren sie in derselben Klasse gewesen, bis ihr Lehrer Stan eines Tages mit Stockhieben bestrafte und Stan, im zarten Alter von zwölf Jahren, dem Mann den Stock entriß und ihn damit bewußtlos schlug.
    »Wie steht’s so?« fragte Stan, auf ihn zuschlendernd.
    »Ziemlich weit weg von deinem Revier heut nacht, oder?«
    »Stimmt. Ich hab den ganzen weiten Weg gemacht, bloß um dich zu treffen.«
    »Wie rührend, Kumpel. Ich wußte gar nicht, daß dir so viel an mir liegt.«
    Stan hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet wie ein Professor oder ein Priester. Da er beides nicht war, nahm Joe an, daß er etwas zu verbergen hatte. Einen Knüppel, ein Messer, eine Feuerwaffe. Bei Stan konnte man nie wissen.
    »Ich zieh Erkundigungen ein für den Chef«, sagte er. Seine rechte Hand kam nach vorn. Er legte den Finger an einen Nasenflügel und sah Joe mit verschwörerischem Blick an.
    »Ach ja? Und um welchen Chef könnte es sich da handeln? Den Premierminister? Den Prinzen von Wales?«
    »Paß auf, was du sagst, Mann. Mr. Sheehan läßt sich nicht verscheißern.«
    Sheehan. Bowler Sheehan. Mein Gott. Er hatte keine Ahnung, daß Stan für ihn arbeitete.
    »Was will Sheehan von mir?« fragte er, um einen gelassenen Tonfall bemüht.
    »Er will wissen, wo die kleine Finnegan ist. Ist ja bekannt, daß du mit ihr gegangen bist, bevor du die Tochter von Peterson geschwängert hast, also hab ich gedacht, du weißt es vielleicht.«
    »Was geht ihn Fiona an?« fragte Joe ärgerlich, und seine ganze Beklemmung war verflogen. Ihm gefiel Sheehans Interesse an Fiona nicht. Kein bißchen. Stan war inzwischen näher gekommen, und Joe wünschte, er hätte sein Klappmesser bei sich. Oder die Brechstange, die er bei Obstkisten benutzte. Oder ein Rasiermesser oder einen Schlüsselbund, den er über die Finger ziehen könnte. Mein Gott, er wäre um einen Korkenzieher froh gewesen.
    »Mr. Sheehan stellt die Fragen, Joe. Er beantwortet sie nicht.«
    »Ach ja? Also hier ist die Antwort: Sag ihm, er kann sich zum Teufel scheren mit seinem großen schwarzen Bowler-Hut. Wie wär’s damit?«
    Stan schmunzelte, und eine Sekunde später schwang er den Totschläger, den er hinter seinem Rücken versteckt hatte. Joe hatte das erwartet und wich dem Schlag aus. Der Schläger verfehlte seinen Kopf und traf ihn an der Schulter. Vor Schmerz fluchend, rammte Joe seinen Schädel in Stans Gesicht und hörte mit Befriedigung das scheußliche Knacken, als dessen Nasenbein brach. Stan schrie laut auf. Er griff sich an die Nase und öffnete damit seine Deckung. Joe versetzte ihm einen heftigen Schlag in die Niere. Stan ließ den Totschläger fallen. Joe hob ihn auf, schob ihn unter sein Kinn und drückte fest zu.
    »Eine Bewegung, und du bist im Jenseits, das schwör ich dir …«
    »Schon gut, schon gut …«, keuchte er und hielt die blutverschmierten Hände hoch.
    »Was will Sheehan von Fiona?«
    Stan antwortete nicht. Joe drückte fester zu. Stans Hände griffen zu dem Totschläger hinauf, dann sank er auf die Knie. Er rang nach Luft. Joe ließ den Druck nach. Das war ein Fehler, Stan hatte nur geblufft. Er packte Joes Arme und

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