Die Teerose
Zwischen ihren Beinen spürte sie Nässe. Zum Glück hatte sie den Bettüberwurf zuvor mit einem alten Laken bedeckt. Sie zog die Knie an, stellte die Füße auf und hob die Hüften, genauso wie sie es in dem Buch von ihrer verheirateten Freundin Sarah gelesen hatte. Mit geschlossenen Augen genoß sie seinen Geschmack auf ihrer Zunge und lächelte.
16
M öchtest du welche, Fee? Sie sind gut und salzig«, sagte Charlie und hielt seiner Schwester eine Tüte Chips hin. »Komm, nimm doch einen …«
»Nein, danke.«
Etwas stimmte nicht. Sie hatte nichts gesagt, aber er konnte es ihr ansehen. Etwas machte sie traurig. Er hatte gehofft, ein sonntagnachmittäglicher Spaziergang zum Fluß würde sie aufmuntern, aber alles, was sie sonst aufheiterte – Lieder, die der Wind herübertrieb, Möwen, die sich um Chips stritten –, schien seine Wirkung zu verfehlen. Sie sah sogar noch bedrückter aus als vor ihrem Spaziergang.
Er folgte ihrem Blick über das schaumgekrönte Wasser. Ein paar Schleppkähne kreuzten den Fluß. Zwei Schiffe in dreckigen Fluten, dachte er. Sosehr er sich auch bemühte, er verstand nicht, was sie an diesem elenden Fluß fand. Er aß seine Chips auf und sah sich dann nach Seamie um. Er jagte Möwen drüben bei Oliver’s Wharf. »He! Du! Geh nicht so nah ans Wasser«, rief er. Seamie beachtete ihn nicht. Er folgte einem Vogel in die Wellen, machte seine Stiefel naß und lachte. Charlie fluchte. Er brachte nicht einmal einen Vierjährigen dazu, zu gehorchen.
Es war nicht leicht, der Mann in der Familie zu sein. Den ganzen Tag arbeitete er in der Brauerei, kämpfte wie ein Tiger im Taj Mahal und verdiente trotzdem nicht genügend Geld, um alle Rechnungen zu bezahlen. Und obwohl er jeden Penny brauchte, den er verdienen konnte, hielt ihn die Arbeit zu oft von zu Hause fern. Heute nachmittag beim Essen hatte er seit Tagen zum erstenmal wieder mit seiner Mutter gesprochen, sie wirklich angesehen, als sie ihm Tee eingoß, und war entsetzt gewesen, wie bleich sie war. Und dann hatte er seine Schwester betrachtet, die ständig mit den Tränen zu kämpfen schien. Sein Bruder schmollte und war quengelig, weil er nicht rauskonnte. Selbst das Baby weinte.
Wie hatte sein Vater es gemacht, fragte er sich. Wie hatte er es geschafft, sie alle zu ernähren und zu kleiden? Wie hatte er es geschafft, ihnen das Gefühl zu geben, versorgt und in Sicherheit zu sein? Und alles vom Lohn eines Dockarbeiters? Er hatte seinem Vater versprochen, sich um sie zu kümmern, und er tat sein Bestes, aber sosehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht. Wenn er doch nur ein paar Pfund beiseite legen könnte, dann würde er mit seiner Familie in ein anständiges Zimmer ziehen, vielleicht sogar ein ganzes Stockwerk in einem besseren Haus mieten. Denny Quinn hatte ihm kürzlich die Möglichkeit geboten, ein paar Shilling extra zu verdienen. Ein Mann schulde ihm eine beträchtliche Geldsumme, hatte er gesagt. Er wollte, daß Charlie und Sid Malone sie für ihn eintrieben. Charlie hatte abgelehnt. Er hatte keine Lust, mitten in der Nacht an die Tür eines Fremden zu klopfen und ihn wegen irgendwelcher Spielschulden bewußtlos zu schlagen. Aber das war, bevor seine Mutter so bleich aussah. Bevor das Baby krank wurde. Jetzt fragte er sich, ob es falsch gewesen war abzulehnen.
Fiona seufzte und riß ihn aus seinen Gedanken. Als er sie ansah, beschloß er, einen anderen Weg einzuschlagen. Wenn er sie dazu bringen könnte, über irgendein Thema zu reden – ganz egal worüber –, bekäme er vielleicht heraus, was sie bedrückte.
»Wie läuft’s im Bull?« fragte er.
»Gut.«
»Schwere Arbeit, was?«
»Ja.«
Es folgte ein langes Schweigen. Er versuchte es noch einmal. »Gestern hab ich Onkel Roddy gesehen.«
»Wirklich?«
»Wir haben über die Morde geredet. Er hat gesagt, der letzte – der an Kelly aus der Dorset Street – war der schlimmste. Man hat nicht mal mehr erkannt, daß es eine Frau war.«
»Wirklich?«
»Ja. Und daß es bislang noch keine Hoffnung gibt, den Kerl zu fangen.«
»Hm.«
Nun, das hatte nicht funktioniert. Es half wohl nichts, und er mußte den direkten Weg einschlagen. Er mußte quasseln und gefühlvoll werden wie ein Mädchen. Was er haßte.
»Also, Fiona … was ist los?«
Sie sah ihn nicht an. »Nichts.«
»Hör zu, da ist doch was. Du bist nicht mehr die alte. Du würdest es doch Pa sagen, wenn er noch hier wär, also erzähl’s jetzt mir. Ich bin der Mann im Haus, das weißt du
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