Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
Schnürsenkel abgenommen. Und im Badezimmer war sogar der Spiegel entfernt worden. Wenn er jetzt zweimal am Tag unter Bewachung zur Toilette geführt wurde, konnte er noch nicht einmal mehr überprüfen, ob er wirklich so jämmerlich aussah, wie er sich fühlte. Früher hatte man immer sein Aussehen gelobt. Er fiel auf durch breite Schultern, dichte Haare und seinen durchtrainierten Körper, der für einen Mann in seinem Alter perfekt gewesen war. Heute war davon nicht mehr viel übrig.
»Mal ehrlich, Dr. Roth. Was empfinden Sie, wenn Sie mich hier so liegen sehen?«
Der Oberarzt mied weiter den direkten Blickkontakt mit Viktor, während er das Klemmbrett ergriff, das am Fußende des Bettes hing. Man konnte ihm ansehen, dass er überlegte. Mitleid? Sorge?
»Angst.« Dr. Roth hatte sich für die Wahrheit entschieden.
»Weil Sie sich davor fürchten, Ihnen könnte etwas Ähnliches zustoßen wie mir?«
»Finden Sie das egoistisch?«
»Nein. Sie sind ehrlich, und das gefällt mir. Außerdem liegt der Gedanke nahe. Wo wir doch einige Gemeinsamkeiten haben.«
Dr. Roth nickte nur.
So unterschiedlich die derzeitige Lage der beiden Männer war, so übereinstimmend schienen einige Etappen in ihren Lebensläufen. Beide wuchsen als wohlbehütete Einzelkinder in den vornehmsten Gegenden Berlins auf. Larenz als Sohn einer alteingesessenen und auf Gesellschaftsrecht spezialisierten Anwaltsfamilie in Wannsee, Dr. Roth als umsorgter Sprössling zweier Handchirurgen in Westend. Beide hatten sie an der Freien Universität in Dahlem Medizin studiert – mit dem Schwerpunkt Psychiatrie. Beide erbten von ihren Eltern die Villa der Familie und ein nicht unerhebliches Vermögen, was ihnen ein Leben ohne Arbeit ermöglicht hätte. Trotzdem war es Zufall oder Schicksal, das sie an diesem Ort zusammengeführt hatte.
»Na schön«, sprach Viktor weiter. »Sie sehen also eine Parallele zwischen uns. Wie hätten Sie denn in meiner Situation reagiert?«
»Sie meinen, wenn ich herausgefunden hätte, wer meiner Tochter das angetan hat?«
Dr. Roth hatte seinen Tagesvermerk auf dem Klemmbrett notiert und sah Viktor zum ersten Mal direkt an.
»Ja.«
»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich überlebt hätte, was Sie durchstehen mussten.«
Viktor lachte nervös auf.
»Das habe ich auch nicht. Ich bin gestorben. Auf die grausamste Art, die Sie sich vorstellen können.«
»Vielleicht wollen Sie mir doch alles darüber erzählen?«
Dr. Roth setzte sich zu Larenz auf die Bettkante.
»Worüber?« Viktor stellte die Frage, obwohl er die Antwort natürlich kannte. Der Arzt hatte es ihm in den letzten Tagen wiederholt vorgeschlagen.
»Alles. Die ganze Geschichte. Wie Sie herausgefunden haben, was mit Ihrer Tochter geschehen ist. Was es mit Josephines Krankheit auf sich hatte. Sie schildern mir, was passiert ist. Und zwar von Anfang an.«
»Ich habe Ihnen das meiste doch schon erzählt.«
»Ja. Aber mich interessieren die Einzelheiten. Ich will alles noch einmal ganz genau von Ihnen hören. Besonders, wie es am Ende dazu kommen konnte.«
Zu der Katastrophe.
Viktor atmete tief aus und schaute wieder hoch zur wasserfleckigen Zimmerdecke.
»Wissen Sie, ich habe all die Jahre nach dem Verschwinden von Josy gedacht, dass es nichts Grausameres geben kann als die Unwissenheit. Vier Jahre lang ohne eine einzige Spur, ohne ein Lebenszeichen. Manchmal habe ich mir gewünscht, das Telefon möge klingeln und man werde uns mitteilen, wo ihre Leiche liegt. Ich dachte wirklich, es gibt nichts Entsetzlicheres als den Schwebezustand zwischen Ahnen und Wissen. Doch ich habe mich geirrt. Denn wissen Sie, was noch schrecklicher ist?«
Dr. Roth sah ihn fragend an.
»Die Wahrheit.« Viktor flüsterte fast. »Die Wahrheit! Ich glaube, ich bin ihr schon einmal in der Praxis von Dr. Grohlke begegnet. Kurze Zeit, nachdem Josy verschwunden war. Und sie war so schlimm, dass ich es nicht wahrhaben wollte. Doch dann traf ich noch einmal auf sie. Und dieses Mal konnte ich sie nicht mehr verdrängen, denn sie hat mich im wahrsten Sinne des Wortes verfolgt. Die Wahrheit stand auf einmal direkt vor mir und schrie mir ins Gesicht.«
»Wie meinen Sie das?«
»Genau so, wie ich es sage. Ich stand dem Menschen gegenüber, der das ganze Elend zu verantworten hatte, und konnte es nicht ertragen. Nun, Sie selbst wissen am besten, was ich dann auf der Insel getan habe. Und wohin es mich letztlich gebracht hat.«
»Die Insel«, hakte Dr. Roth nach. »Parkum,
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