Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
richtig? Warum waren Sie überhaupt dort?«
»Als Psychiater müssten Sie eigentlich wissen, dass das die falsche Frage ist.« Viktor lächelte. »Ich will trotzdem versuchen, Ihnen eine Antwort darauf zu geben: Die Bunte bat mich, Jahre nach Josys Verschwinden, zum wiederholten Mal um ein Exklusiv-Interview. Zuerst wollte ich ablehnen. Auch Isabell war dagegen. Doch dann dachte ich, die Fragen, die man mir per Fax und E-Mail geschickt hatte, könnten mir helfen, meine Gedanken zu sortieren. Zur Ruhe zu kommen. Verstehen Sie?«
»Also fuhren Sie dorthin, um an dem Interview zu arbeiten?«
»Ja.«
»Allein?«
»Meine Frau wollte und konnte nicht mitkommen. Sie hatte einen wichtigen Geschäftstermin in New York. Ehrlich gesagt, war ich ganz froh, für mich zu sein. Ich hoffte einfach, dass ich auf Parkum endlich den nötigen Abstand finden würde.«
»Den Abstand, um Abschied von Ihrer Tochter zu nehmen.«
Viktor nickte, obwohl Dr. Roth seinen letzten Satz nicht als Frage formuliert hatte.
»So in etwa. Also nahm ich meinen Hund, fuhr an die Nordsee und ließ mich von Sylt aus übersetzen. Ich konnte ja nicht ahnen, was für eine Kette von Ereignissen ich mit dieser Reise in Gang setzte.«
»Erzählen Sie mir mehr darüber. Was genau geschah auf Parkum? Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass alles zusammenhängt?«
Die unerklärliche Krankheit von Josephine. Ihr Verschwinden. Das Interview.
»Also, gut.«
Viktor ließ seinen Kopf kreisen und hörte, wie seine Nackenwirbel knackten. Wegen der Fesseln war dies momentan die einzige Entspannungsübung, die ihm noch möglich war. Er atmete tief durch und schloss die Augen. Wie immer dauerte es nur wenige Augenblicke, bis ihn seine Gedanken zurückführten. Zurück nach Parkum. Zurück in das reetgedeckte Strandhaus. Dem Ort, an dem er vorgehabt hatte, sein Leben vier Jahre nach der Tragödie neu zu ordnen. Wo er hoffte, den nötigen Abstand für einen Neuanfang zu gewinnen. Und wo er stattdessen alles verlor.
2. Kapitel
Parkum, fünf Tage vor der Wahrheit
B: Wie fühlten Sie sich unmittelbar nach der Tragödie?
L: Ich war tot. Zwar atmete ich noch, ich trank auch und aß hin und wieder. Und ich schlief manchmal sogar ein bis zwei Stunden am Tag. Aber ich existierte nicht mehr. Ich starb an dem Tag, an dem Josephine verschwand.
Viktor starrte auf den blinkenden Cursor hinter dem letzten Absatz. Seit sieben Tagen war er jetzt auf der Insel. Seit einer Woche saß er von früh bis spät an dem alten Mahagonischreibtisch und versuchte, die erste Frage des Interviews zu beantworten. Erst heute Vormittag war es ihm endlich gelungen, wenigstens fünf zusammenhängende Sätze in seinen Laptop zu tippen.
Tot. Tatsächlich gab es kein treffenderes Wort, um den Zustand zu beschreiben, in dem er sich in den Tagen und Wochen unmittelbar danach befunden hatte.
Danach.
Viktor schloss die Augen.
An die ersten Stunden unmittelbar nach dem Schock konnte er sich nicht mehr erinnern. Wusste weder, mit wem er gesprochen hatte, noch, wo er gewesen war. Als das Chaos seine Familie zerstörte. Isabell hatte damals die Hauptlast tragen müssen. Sie war es, die für die Polizei den Kleiderschrank durchsuchte, um herauszufinden, welche Sachen Josy getragen hatte. Sie war es, die das Bild aus dem Familienalbum löste, damit es ein taugliches Fahndungsfoto von der Kleinen gab. Und sie war es auch, die die Verwandten informierte, während er ziellos durch die Straßen Berlins geirrt war. Der angeblich so professionelle, berühmte Psychiater hatte in der wichtigsten Situation seines Lebens jämmerlich versagt. Und auch in den folgenden Jahren war Isabell stärker gewesen als er. Während sie schon nach einem Vierteljahr wieder ihrem Beruf als Unternehmensberaterin nachging, hatte Viktor seine Praxis verkauft und seitdem keinen einzigen Patienten mehr behandelt.
Der Laptop gab plötzlich einen hellen Warnton von sich und Viktor merkte, dass der Akku wieder ans Stromnetz angeschlossen werden musste. Als er am Tag seiner Anreise den Schreibtisch im Kaminzimmer vor das Panoramafenster mit dem Blick zum Meer gerückt hatte, stellte er fest, dass es dort keine Steckdose gab. Jetzt konnte er beim Arbeiten zwar immer wieder die atemberaubende Aussicht auf die winterliche Nordsee genießen, musste dafür aber alle sechs Stunden seinen Computer zum Aufladegerät tragen, das auf einem kleinen Tisch vor dem Kamin stand. Viktor speicherte schnell das Word-Dokument, bevor die Daten für immer
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