Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
Behandlungsschritt entschlossen haben. Ich erspare Ihnen die medizinischen Details und komme gleich zu dem, was wir herausgefunden haben.«
Freymann und Lahnen nickten dankbar.
»Sie sollten zunächst wissen, dass Viktor Larenz unter zwei Krankheiten gleichzeitig leidet. Dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom und der der Allgemeinheit wohl bekannteren Schizophrenie . Ich will Ihnen erst einmal den Münchhausen-Aspekt erläutern. Die Krankheit hat ihren Namen von dem bekannten Lügenbaron. Sie heißt so, weil die Patienten ihre Mitmenschen und Ärzte über Krankheitssymptome anlügen, um dadurch mehr Aufmerksamkeit und Zuneigung zu bekommen. Es gibt dokumentierte Fälle, in denen völlig gesunde Menschen ihrem Arzt Blinddarmschmerzen vortäuschen und diese so perfekt simulieren, dass sie operiert werden. Später reiben sie sich dann Kot und Abfall in die OP-Wunde, damit sie nicht wieder verheilt.«
»Das ist ja krank«, murmelte Lahnen angewidert. Dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, teilte sein Kollege dessen Meinung.
»Ja, genau das ist es«, bestätigte Malzius. »Und diese Krankheit ist sehr schwer zu diagnostizieren. Dabei tritt sie gar nicht so selten auf. Auf einigen Intensivstationen Englands ist man schon zur Videoüberwachung übergegangen. Doch selbst das hätte im Falle des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms wie bei Viktor Larenz gar keinen Erfolg bringen können. Denn Larenz hat sich nicht selbst, sondern einen Stellvertreter geschädigt. Seine Tochter Josephine, genannt Josy.«
Der Professor ließ seine letzten Worte etwas wirken, bevor er weiterredete.
»Der Vater hatte als einziges Familienmitglied Kenntnis von zwei akuten Medikamentenallergien seiner Tochter, die er sich für seinen mörderischen Plan zunutze machte: Josephine vertrug weder Paracetamol noch Penicillin. Beide Arzneimittel verabreichte ihr Larenz in immer höheren Dosen. Wenn man so will, trägt diese Vergiftung Züge eines perfekten Verbrechens. Da Larenz die Allergie seiner Tochter allen verschwiegen hatte, schöpfte niemand Verdacht, wenn er ihr Paracetamol gegen Kopfschmerz und später Penicillin gegen die unerklärlichen Infekte verabreichte. Sein Umfeld glaubte, er würde sich liebevoll um seine Tochter kümmern und sie mit den indizierten Tabletten professionell behandeln. Tatsächlich aber verschlimmerte er dadurch aktiv den Zustand von Josephine, bis hin zu lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schocks.«
Der Klinikleiter unterbrach seinen Vortrag kurz und nahm einen weiteren Schluck aus dem Wasserglas, dann fuhr er fort.
»Auch der Marathon durch die Arztpraxen, den Josy durchzustehen hatte, ist ein typisches Symptom von Münchhausen by proxy, also des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms«, redete er schließlich weiter. »Die mörderischen Handlungen wurden durch ein Schlüsselereignis im Urlaub ausgelöst. Larenz verbrachte mit seiner Frau Isabell und Josephine die Ferien in einem Bungalow im Sacrower Forst, dem Wochenendhaus der Familie. Josephine war zu dieser Zeit elf Jahre alt, und die Vater-Tochter-Beziehung war bis dahin äußerst eng. Doch das änderte sich nun. Josephine wollte plötzlich im Badezimmer allein sein. Sie suchte mehr die Nähe ihrer Mutter und mied gleichzeitig den Vater. Der Grund: Sie hatte ihre erste Periode bekommen. Dieses völlig normale Ereignis im Leben der jungen Tochter löste eine Spirale des Wahnsinns beim Vater aus. Ihm wurde klar, dass Josephine nun langsam erwachsen werden und dass sie sich früher oder später völlig von ihm lösen würde. Keinem war aufgefallen, dass Larenz’ Emotionen seiner Tochter gegenüber ungesund und krankhaft waren. Und keiner bemerkte, was der Vater tat, um sich die Nähe von Josephine zu erhalten: Er vergiftete sie. Er machte sie hilflos und abhängig. Das ist der Münchhausen-Aspekt seiner Krankheit. Bisher war ein solcher Fall in der Medizin nur bei Müttern bekannt. Es ist das erste Mal, dass ein Vater seiner Tochter so etwas antut.«
»Professor Malzius«, unterbrach Freymann den Arzt. »Das ist ja alles hochinteressant. Aber wir müssen ein Bild davon bekommen, ob der Mann nach Plan handelte oder impulsiv. Wenn er seine Tochter über Monate hinweg vergiftet hat, hört sich das ziemlich strukturiert und vorsätzlich an.«
»Nicht unbedingt. Sie dürfen nicht vergessen: Larenz ist ein krankhafter Lügner. Ein Münchhausen-Patient. Aber er ist nicht nur das. Er lebt in seinen Lügenwelten. Er glaubt an sie. Hier setzt seine zweite Krankheit
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