Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
zittern und weinte jetzt hemmungslos. Ich hielt ihr den Mund zu, achtete dabei aber darauf, dass sie durch die Nase atmen konnte. Josy biss mich in die Hand. Trotz des heftigen Schmerzes, der meinen gesamten Arm durchzuckte, ließ ich nicht los. Nicht, solange Isabell noch über uns war.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so verharrt hatte: selbst nach Luft ringend, mit einem hysterischen Mädchen in enger Umklammerung, kniend, panisch, in einem dunklen und stinkenden Öltank. Eine Minute? Fünf? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Und doch wusste ich auf einmal, dass Isabell gegangen war. Ich merkte es daran, dass das schummrige Dämmerlicht verschwunden war. Sie musste die Tür geschlossen haben.
Erleichtert lockerte ich meinen Griff um Josy, die immer noch heftig schluchzte.
»Ich hab Angst, Papa«, sagte sie zu mir, und ich war froh, dass sie mich als ihren Vater anredete. So sah sie in mir wenigstens eine Vertrauensperson.
»Ich auch«, sagte ich und drückte sie ganz fest an mich. »Aber alles wird gut.«
Und alles hätte gut werden können. Ich wusste es. Isabell war wieder weg.
Sie wollte wohl gerade zurück zum Haus gehen. Vielleicht, um dort nach einer Taschenlampe zu suchen. Und das hätte uns Zeit verschafft. Zeit, um aus dem Tank zu klettern, ins Dorf zu laufen, Hilfe zu holen …
Zeit für die nächsten Schritte.
Doch dann passierte es. Josy konnte einfach nicht still halten. Sie fing an zu weinen. Es war zu viel für die Kleine. Sie litt unter Klaustrophobie in der klebrig-glitschigen Ölwanne, in der es so dunkel war wie in einem Grab. Und dann begann sie zu schreien. Laut. Ich konnte einfach nichts dagegen tun. Ich war mit ihr in dem Tank gefangen und konnte sie nicht beruhigen. Doch das war leider nicht das Schlimmste. Den größten Fehler hatte ich gemacht, als ich die Ölleitung gekappt hatte. Es war mir erst klar, als der Generator zu stottern begann. Und dann plötzlich ausfiel.
Das war das Schlimmste. Denn plötzlich drang jedes Geräusch, das wir verursachten, ungehindert nach draußen.
55. Kapitel
V iktor fühlte, wie ihm plötzlich Tränen in die Augen schossen.
Sein kleines Mädchen, lebendig begraben in einem stinkenden Grab. Er sah zu Anna hin, roch den Duft des Volvos, spürte die Vibration des Motors und fühlte sich in seinem eigenen Albtraum gefangen.
»Was ist mir ihr geschehen? Wo ist sie?«
»Lies weiter!«
Die Tür flog wieder auf, und diesmal hörte ich die Schritte über mir. Ich hatte keine andere Wahl. Jeden Augenblick erwartete ich, das Gesicht von Isabell an der oberen Kante des Öltanks zu sehen, und jetzt war ich mir überhaupt nicht mehr sicher, ob es wirklich so abwegig war, dass sie ein Feuerzeug anzünden könnte, wenn sie uns hier unten vermutete. Bevor Josy sich endgültig verraten würde, blieb mir nur eine einzige Möglichkeit. Ich riss die Kleine nach unten und tauchte mit ihr ab.
Das Öl umschloss uns wie ein Mantel des Todes. Sein klebriger Film durchdrang alle Kleider und schloss jede Öffnung im Gesicht. Es verstopfte die Nasenlöcher und drückte wie ein Pfropfen in die Ohren, so dass ich nichts mehr hören konnte. Jetzt hatte ich eine Ahnung, wie sich ein sterbender Seeadler fühlt, der verzweifelt versucht, die schwarze Pest, das aus einem Schiffsrumpf ausgelaufene Erdöl, aus seinem Gefieder zu bekommen, bevor er im verseuchten Meer für immer untergeht.
Ich unterdrückte meinen Lebenserhaltungstrieb, presste Josys Kopf nach unten und stieg selbst nicht auf, obwohl meine Lungen nach Sauerstoff schrien. Ich wusste nicht, was über mir los war. Ich sah nichts, hörte nichts und merkte nur, wie meine Kräfte schwanden. Erst als ich es nicht mehr aushalten konnte, riss ich zuerst Josy, dann mich selbst wieder nach oben. Ich musste es tun, selbst wenn es zu früh gewesen wäre und Isabell uns jetzt gesehen hätte. Ich konnte es keine Sekunde länger aushalten.
Doch es war nicht zu früh.
Es war zu spät.
Als ich wieder auftauchte, hielt ich Josy leblos in meinen Armen. Ich strich ihr das Öl vom Mund, presste ihre Lippen auseinander. Schüttelte sie. Wollte sie beatmen. Doch es hatte keinen Sinn. Ich fühlte es. Ich wusste es.
Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob es der Schock, die Angst oder wirklich das Öl war, was sie tötete. Aber ich weiß, dass nicht Isabell, sondern ich sie umgebracht habe.
»Das ist eine LÜGE!«
Viktor wollte schreien, aber es kam nur ein Krächzen aus seiner Kehle.
»Nein. Ist es nicht«, antwortete Anna kalt und
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