Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
entführt worden war, während der Vater die Toilette aufsuchte. Viktor Larenz bekam noch in der Praxis von Dr. Grohlke einen Kollaps und wurde bei uns eingeliefert. Bis vor einem Monat haben wir ihn dann erfolglos behandelt. Wir führten seinen Zustand auf den schrecklichen Verlust seiner Tochter zurück, konnten uns aber nicht erklären, warum sein Zustand durch die Behandlung mit herkömmlichen Psychopharmaka nicht besser wurde. Tatsächlich trat genau das Gegenteil ein: Sein Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag, von Monat zu Monat. Und da wir nicht wussten, dass er selbst für das Verschwinden von Josephine verantwortlich war, gingen wir zugegebenermaßen völlig falsch an diesen Fall heran. Wir behandelten ihn zunächst wegen seiner schweren Depressionen. Sein Zustand verschlechterte sich jedoch immer mehr. Schließlich war er überhaupt nicht mehr ansprechbar, verfiel in eine katatonische Starre. Wie wir jetzt wissen, flüchtete er sich wieder in seine fiktive Scheinwelt und lebte in seinen Wahnvorstellungen nun ununterbrochen auf der Insel Parkum. Dort wohnte er mit seinem Hund Sindbad, hatte Kontakt zu einem Bürgermeister namens Halberstaedt, einem Fischer namens Burg, und er schrieb an einem Interview. Alles nur in seinem Kopf. Nichts davon ist real gewesen.«
»Aber wenn er wirklich so schwer krank ist …«, hakte Freymann nach und zog eine Taschenuhr hervor, um zu sehen, ob sie noch genügend Zeit hatten, »… und wenn er vier Jahre überhaupt nicht ansprechbar war, warum ist er vor neun Tagen dann auf einmal aufgewacht? Sie selbst haben uns in der Vorbesprechung gesagt, er wäre jetzt wieder verhandlungsfähig. Wieso?«
»Eine sehr gute Frage«, gab Malzius zu. »Bitte sehen Sie sich dazu kurz diese Fotos von ihm an.« Er schob einen neuen Kasten in den Projektor.
»Hier sehen Sie seinen Krankheitsverlauf. Vom ersten Tag der Einlieferung an, als er wirr in die Kamera starrte, bis hin zum völligen Zusammenbruch, als er autistisch und sabbernd in seinem Zimmer dahinvegetierte.«
Die Bilder wechselten in rascher Folge.
»Selbst für einen medizinischen Laien ist es klar ersichtlich: Alles, was wir in den Jahren unternommen hatten, die Medikamente, die Behandlungen – sie verschlimmerten seinen Zustand nur. Er baute ab, und es wurde schlechter anstatt besser. Bis ein junger Arzt schließlich eine verwegene Idee hatte. Die Rede ist von Dr. Martin Roth. Auf seinen Vorschlag hin setzten wir von einem Tag auf den anderen alle Medikamente ab.«
»Und als er seine Spritzen nicht mehr bekam …«, rief Lahnen aufgeregt in den Saal.
»… wurden, wenn man so will, seine Selbstheilungskräfte aktiv. Er schuf sich in seiner Halluzination gewissermaßen selbst einen Therapeuten: Anna Spiegel.«
Lahnen pfiff leise durch die Zähne, was ihm einen bösen Blick von Freymann einfing. Offenbar gab es selbst zwischen den beiden Starjuristen noch so etwas wie eine Hackordnung.
»Erst dachte Dr. Larenz, sie wäre bei ihm in Behandlung. Tatsächlich war es genau umgekehrt. Er war der Patient und Anna Spiegel seine Psychotherapeutin. Sie hielt ihm im wahrsten Sinne des Wortes einen Spiegel vor und zeigte ihm, was er getan hatte: seine eigene Tochter zu töten. Damit ist er der erste schizophrene Patient, der sich mit Hilfe seiner eigenen Visionen therapiert hat.«
Das Licht ging an, und die beiden Juristen nahmen dankbar zur Kenntnis, dass die Sitzung endlich zu Ende war. Sie wollten schon seit einer Stunde oben bei ihrem Mandanten sein und hätten ein schriftliches Briefing durch Professor Malzius bevorzugt. Dennoch, sie hatten soeben wichtige Neuigkeiten erfahren, auf denen sich eine plausible Verteidigungsstrategie aufbauen lassen würde.
»Konnte ich Ihnen weiterhelfen?«, wollte der Professor wissen, während er die Tür des Hörsaals aufschloss und seine Besucher in die Wandelhalle führte.
»Ja, sicher«, antwortete Freymann, und Lahnen stimmte ihm zu.
»Es war wirklich sehr aufschlussreich. Allerdings …«
»Ja?« Malzius zog die Augenbrauen hoch. Mit etwas anderem als uneingeschränktem Lob für seine Schilderungen hatte er nicht gerechnet.
»Na ja, alles, was Sie uns hier berichtet haben, beruht doch letztendlich auf dem, was Ihnen Viktor Larenz persönlich erzählt hat, nachdem er wieder einigermaßen klar denken konnte. Richtig?«
Malzius nickte. »Mehr oder weniger. Bislang war er nicht sehr gesprächig. Das meiste mussten wir uns aus wenigen Andeutungen zusammenreimen.«
Der
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