Die Tochter der Ketzerin
durchschnittlichem Wuchs und schlank und hatte für einen Farmer recht zarte Hände. Seine hohe Stirn wurde durch den zurückweichenden Haaransatz noch mehr betont. Er besaß mehr Bücher und Pamphlete, als ich je in einem einzigen Haus gesehen hatte. Zu seinen Schätzen gehörten eine alte, abgenutzte Bibel, Werke von Increase und Cotton Mather, Almanache für die Landwirtschaft und weitere auf hauchdünnes Pergament gedruckte Traktate, die das Neueste aus den Kolonien berichteten. Außerdem lächelte der Onkel viel, was ich an sich schon bemerkenswert fand. Doch am meisten erstaunte mich, dass Roger Toothaker im Gegensatz zu meinem wortkargen Vater ständig redete. Morgens beim Aufstehen fing er an, und er hörte erst wieder auf, wenn er zu Bett ging. Er sprach bei den Mahlzeiten und auch, wenn er die langen Winterabende mit Reparaturarbeiten verbrachte. Dabei muss ich hinzufügen, dass der Onkel nie ein Gerät, ein Werkzeug oder einen ledernen Zaum instand zu setzen schien, ohne Andrew die Arbeit zu Ende bringen zu lassen. Es war, als ob anspruchslose Tätigkeiten wie diese ihn in seiner Fähigkeit behinderten, eine Geschichte zu erfinden. Meiner Erinnerung nach konnte mein Vater eine Kuhhaut spalten und ein neues Geschirr für den Pflug daraus machen - und zwar in derselben Zeit, die mein Onkel brauchte, um auch nur eine Schnalle an einem Riemen anzubringen.
Am ersten Abend zur Essenszeit saß ich, Hannah schwer auf dem Schoß, in meiner Ecke. Das Fleisch war so zäh, dass ich es vorkauen musste, bevor ich meiner Schwester kleine Bröckchen zwischen die Lippen schieben konnte. Sie hatte noch nicht viele Zähne, und offenbar hatte die Tante vergessen, dass kleine Kinder Brei brauchen. Der Kürbis war jedoch gut durchgebraten, und Hannah lutschte genüsslich an einem Stück, sodass das Fett von ihrer Hand auf meine Schürze tropfte. Der Onkel hatte aufgehört zu essen. Nun schob er seinen Stuhl zurück und streckte die Beine aus. Andrew warf mir über seine Schulter einen tückischen Blick zu. »Erzähl uns die Geschichte vom Geist des umherwandernden Soldaten, Vater«, bat er dann.
»Oh, nein, Roger. Dafür ist es schon viel zu spät«, widersprach die Tante und verzog missbilligend die Lippen. Als sie Andrew dabei ertappte, wie er mich mit einer Grimasse ärgern wollte, kniff sie ihn in die Hand. Der Onkel blickte mich mit schweren Lidern an. Das Fett an seinem Mund und Kinn glänzte im Feuerschein orangefarben und gelb, was sein Gesicht aussehen ließ wie gebrannten Ton. Auch Margaret hatte sich zu mir umgedreht. Das dunkle Haar fiel ihr, einem Vorhang gleich, übers Gesicht, und ihr starrer Hals erinnerte an einen schussbereiten Bogen. Ich verstand die Botschaft: »Sei kein Angsthase.« Und so ergriff ich das Wort. »Ich fürchte mich nicht. Erzähl ruhig deine Geschichte.« Der Onkel legte den Arm um Margarets Schulter. »Offenbar ist deine Cousine Sarah eine verwandte Seele«, sagte er, schob den Teller weg und betrachtete die Maserung des Holztisches, als habe er eine aufgeschlagene Landkarte vor sich.
»Der Abend dämmert in einem einsamen und abgelegenen Dorf, das auch Billerica sein könnte. Immer dunkler und dunkler wird es, bis nur noch die ersten Abendsterne den Menschen Licht spenden. Im Schein der Kerzen malen sich geisterhafte Schatten auf den Fensterbrettern. Angst liegt in der Luft, und das ganze Dorf ist erfüllt von Grauen vor etwas, das man noch nicht sehen kann. Wie ein wabernder Nebel schleicht die Beklemmung um die Häuser, das Pfarrhaus und den Friedhof. Es dauert nicht lange, und jeder Baum mit seinen gebrochenen Ästen scheint ein bewaffneter Feind zu sein, und man möchte die Baumstümpfe mit hungrigen Raubtieren verwechseln. Da schleppt sich ein abgemagerter Soldat aus dem herbstbunten Wald aus Eichen und Ulmen heran. Blutige Verbände bedecken seine schwärenden Wunden. So wankt er von Tür zu Tür durch das ganze Dorf, um etwas Essbares zu erbetteln. ›Ich habe solchen Hunger‹, lauten seine einzigen Worte. Eine gütige Frau, die seine kläglichen Bitten hört, geht einen Teller mit Speisen holen. Doch als sie zurückkommt, ist der Soldat verschwunden. Dann, vor dem Schlafengehen, vergessen leichtsinnige Eltern, die Tür zu verriegeln. Ein Kind, ein rothaariges Mädchen, so wie Sarah, schleicht sich aus dem Haus, um dem Soldaten Süßigkeiten zu bringen. Am nächsten Morgen wird Alarm gegeben, denn das Kind ist verschwunden. Nach langer Suche finden die Männer des Dorfes nur
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