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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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beängstigend laut, und Vater ließ das Pferd ganz langsam gehen, damit der Karren nicht so quietschte. Hannah war eingeschlafen und schmiegte sich in meine Arme. Ich betete, dass sie nicht aufwachen und weinen würde, weil Kindergeschrei nachts auch noch in großer Entfernung zu hören ist. Nachdem wir die Shawshin Bridge hinter uns hatten, brauchten wir uns nicht mehr vor Entdeckung zu fürchten. Der Wagen ächzte zwar laut genug, um die Toten aufzuwecken, doch hier lebten keine Siedler, die uns hätten aufhalten können. Ich legte mich rücklings ins Heu und betrachtete die Sterne am pechschwarzen Firmament, die den Himmel aussehen ließen wie geronnene Milch in Mutters Färbetiegel. Die Fahrt dauerte drei Stunden, was Vater genug Zeit gab, uns abzuliefern und Andover noch vor Morgengrauen zu erreichen, wenn er sofort wieder umkehrte. Nach einer Weile schlief ich ein. Ich träumte, ich triebe in einem kleinen Boot in der reißenden Strömung eines Flusses und ließe die Hand ins Wasser hängen. Unter der Oberfläche lauerten, kaum zu sehen wegen des gleißenden Sonnenlichts, dunkle, schemenhafte Kreaturen. Gleichzeitig wurden meine Gliedmaßen schleichend von einer Lähmung ergriffen, sodass ich die Hand nicht aus dem Wasser ziehen konnte. Bald spürte ich das Zupfen gieriger Mäuler und winziger scharfer Zähne an meinen Fingerspitzen. Ich wartete auf den ersten stechenden Schmerz und darauf, dass Blut floss, doch stattdessen wachte ich erschrocken auf und spürte, wie Hannah hungrig an meinen Fingern saugte.
    Einige Meter voraus waren die düsteren Umrisse eines Hauses zu sehen. Trübes gelbliches Licht fiel aus der offenen Tür, und auf der Schwelle stand ein Mann. »Wer da?«, rief er drohend. In seiner Hand bemerkte ich eine geschwungene kleine Sichel. Die tiefe Stimme meines Vaters und sein walisischer Akzent hallten durch die Nacht wie eine Bassgeige. »Thomas Carrier. Ich habe meine beiden Töchter bei mir, Sarah und Hannah.« Im nächsten Moment erschien eine Frau neben dem Mann. Sie zog ihren Umhang um die Schultern zusammen und ging dem Karren entgegen.
    »Thomas, was ist? Was ist geschehen?« Ich erkannte meine Tante, ohne ihr Gesicht zu sehen, und ich hörte die Angst in ihrer Stimme. Was sonst, außer ein Unglück, hätte den Ehemann ihrer Schwester und ihre beiden Nichten um diese Uhrzeit zu ihr führen sollen? Als sie auf den Wagen zutrat, sagte mein Vater: »Mary, komm noch nicht so nah. Ich habe einen Brief von deiner Mutter bei mir. Am besten liest du ihn zuerst.« Mit seinem langen Arm streckte er ihr das Pergament hin, das Mary so zögernd entgegennahm, als handle es sich um eine bissige Schlange. Dann kehrte sie zur offenen Tür zurück, um den Brief dort im Licht zu lesen. Dabei betasteten ihre Finger ängstlich ihren Hals. Als sie fertig war, reichte sie den Brief meinem Onkel. Während sie wartete, bis auch er zu Ende gelesen hatte, hielt sie in der Dunkelheit Ausschau nach unseren Gesichtern. Hannah, die sich inzwischen nicht mehr mit meinen Fingern zufriedengeben wollte, hatte ein lautes Gebrüll angestimmt. Ihre Schreie bekamen einen seltsam abgehackten Klang, als ich sie immer heftiger auf den Knien schaukelte. Wir fragten uns, ob man uns wohl willkommen heißen oder uns fortschicken würde.
    Kurz darauf kehrte Mary mit einer brennenden Fackel in der Hand zum Wagen zurück. Ihre Schritte waren so schleppend, als folgte sie einem Beerdigungszug. Vor dem Karren blieb sie stehen und musterte uns bleiche, zitternde Kinder und unsere wegen der Kälte und der späten Stunde eingefallenen Gesichter. Ich merkte ihr ihre Furcht an, denn schließlich bestand die Möglichkeit, dass sie ihre eigene Familie gefährdete, wenn sie uns bei sich aufnahm. Dennoch streckte sie die Arme nach Hannah aus, drückte sie an ihre Brust und bedeckte sie mit ihrem Umhang. »Du musst jetzt mit mir hineinkommen«, sagte sie dann. Mit steifen Beinen kletterte ich aus dem Heu, nahm mein kleines Bündel und ging hinter ihr her zum Haus. Als ich feststellte, dass Vater keine Anstalten machte, uns zu begleiten, blieb ich stehen, unschlüssig, ob ich wieder in den Karren klettern oder ein fremdes Haus betreten sollte.
    Die Stimme meines Vaters klang so tief wie das Grollen von Steinen. »Sei brav, Sarah. Bleib gesund.« Eine Pause entstand. Dann ruckte er an den Zügeln, wendete wortlos das Pferd und fuhr davon. Ich stand da und blickte ihm nach, wie er den frischen Spuren seiner eigenen Räder zurück nach Andover

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