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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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folgte. Der Mond war hinter den Baumwipfeln verschwunden, sodass das Dach des Hauses nicht mehr auszumachen war. Ich konnte nur noch ein kleines Rechteck aus gelblichem Licht in einer schwarzen Wand erkennen. Die Knie fest durchgedrückt, stemmte ich die Füße in den Schnee und presste meine Habseligkeiten an meine Brust. Irgendwo im Wald jenseits des Hofs knackte ein Zweig, und es raschelte, als schliche sich etwas näher an die Lichtung heran. Immer noch war die Tür offen, und ich verharrte vor dem Haus. Nach einiger Zeit erschien ein Mädchen auf der Schwelle. Sie trug ein weißes Hemd und eine Haube, und das dunkle Haar fiel ihr über die Schultern.
    »Sarah, komm jetzt rein. Es ist eiskalt«, rief eine zarte Stimme. Doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Die Luft um mich herum war zähflüssig geworden, und mein Körper war so starr und steif wie ein in Glas gegossener Holzsplitter. Da kam sie wie ein Geist barfuß durch den Schnee auf mich zu und tastete sich mit ausgestreckter Hand durch die Dunkelheit. Ich stellte fest, dass es meine Cousine Margaret war. Obwohl sie zwei Jahre älter war als ich, war sie genau gleich groß und sehr schlank. Sie hatte rabenschwarzes Haar und ein spitzes Kinn, was sie wie eine Elfe wirken ließ. Margaret lächelte weder, noch versuchte sie, mich zu überreden. Stattdessen griff sie einfach nur nach meinen ineinandergekrampften Händen und zog sanft daran, bis wir beide über die Schwelle stolperten.
    Ich stand in der Tür. Mein Rock und mein Umschlagtuch dampften in der Wärme. Hannah war in Tante Marys Armen eingeschlafen und lutschte an einem in Zuckerwasser getauchten Lappen. Ich hoffte, dass meine Verwandten eine Kuh besaßen, denn die Kleine würde am nächsten Morgen Milch brauchen. Neben dem Kamin war ein Strohsack ausgebreitet worden, und Margaret führte mich zum frisch nachgeschürten Feuer. Bald lag ich, Hannah neben mir, eingekuschelt unter dicken Decken. Während ich einschlief, hörte ich meine Tante noch flüstern, wir würden einige Tage abseits von der Familie schlafen und essen müssen, bis mit Sicherheit feststehe, dass wir nicht krank seien. Was aus uns werden sollte, falls wir Symptome der Pocken zeigten, sagte sie nicht.

    In den nächsten beiden Tagen vegetierten Hannah und ich im Haus von Mary und Roger Toothaker vor uns hin. Man gab uns zwar Essen und einen Schlafplatz am Feuer, hielt uns aber ansonsten auf Abstand. Ich sorgte dafür, dass Hannah immer in meiner Nähe blieb, und teilte sogar meine Puppe mit ihr. Doch sie war unruhig und störrisch und wollte unbedingt das Haus erkunden. Trotz ihres Verbots tätschelte die Tante ihr hin und wieder das Köpfchen und flocht die Finger in die weichen Locken. Dann war Hannah wieder guter Dinge und krabbelte fröhlich im Zimmer umher. Ihre Kapriolen brachten den Onkel zum Lachen, und er stupste sie leicht unter dem Kinn, bevor er sie wieder zu mir zurückscheuchte. Als der Abend dämmerte, saß ich wie ein ungebetener Gast in meiner dunklen Ecke und beobachtete, wie meine Verwandten im Haus hin und her gingen. Mit halb geschlossenen Augen sah ich zu, während meine Cousine Margaret und ihr Bruder Andrew mich ihrerseits betrachteten. Andrew war dreizehn und im Gegensatz zu meinem Bruder, seinem Namensvetter, der wie ich rothaarig und von frischer Gesichtsfarbe war, schmal und dunkel. Ich empfand ihn als hinterlistig und verschlagen, denn wenn die Tante nicht hinschaute, zwickte er Hannah häufig oder sorgte dafür, dass sie hinfiel. Als er uns einmal allein wähnte, schlich er sich von hinten an mich heran und zog mich kräftig an den zarten Haaren im Nacken. Obwohl mir die Tränen in die Augen traten, schwieg ich und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Am nächsten Morgen musste Andrew feststellen, dass jemand den Nachttopf über seine Schuhe ausgeleert hatte. Meine Tante war auch dunkelhaarig wie meine Mutter, doch ihr Gesicht ähnelte eher dem meiner Großmutter. Während im Blick meiner Mutter ein nicht unterzukriegender Eigensinn funkelte, zeigte sich in Tante Marys Augen selbst beim Lachen eine gewisse Traurigkeit, sodass sie stets zart und reizend melancholisch wirkte. Mutter hatte mir erzählt, sie habe direkt aufeinander drei Fehlgeburten erdulden müssen. Die Kinder seien nicht im Mutterleib gediehen und nach drei Monaten unter Blut und Tränen weggespült worden.
    Onkel Roger und mein Vater waren so verschieden, wie es zwei Männer nur sein konnten. Mein Onkel war von

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