Die Tochter der Wälder
Höhle. Nach einiger Zeit ließen meine Tränen nach, und ich putzte mir die Nase und versuchte, über das, was der Junge gesagt hatte, hinwegzukommen und mich darauf zu konzentrieren, wieso ich hier war. Aber es fiel mir schwer; ich musste jeden Schritt des Wegs mit mir kämpfen.
Finbar ist gut. Ich kenne ihn so gut wie mich selbst.
Warum hat er dann nichts unternommen, ehe der Schaden angerichtet war? Und was ist mit den anderen? Sie haben gar nichts getan.
Liam ist mein großer Bruder. Unser Anführer und Beschützer. Unsere Mutter hat ihm diese Aufgabe gegeben. Er würde nichts Böses tun.
Liam ist ein Mörder wie sein Vater. Ebenso wie der lächelnde Diarmid. Dir wendet er ein freundliches Gesicht zu, aber in Wahrheit versucht er, genau wie die beiden anderen zu sein.
Und was ist mit Conor? Er zieht nicht in den Krieg. Er ist gerecht. Er ist der Denker in der Familie.
Auch er hätte etwas sagen können und hat es nicht getan.
Aber er hat uns geholfen, zumindest glaube ich, dass er uns geholfen hat, er wusste von dem Gefangenen, und er hat mich nicht aufgehalten.
Conor spielt nur Spielchen, und das tut er geschickt.
Cormack weiß noch nichts vom Krieg; für ihn ist es nur Spaß und Sport, eine Herausforderung. Er würde keine Folter zulassen.
Er wird es bald genug lernen. Er hungert nach dem Geschmack von Blut.
Und was ist mit Padraic? Er ist doch sicher unschuldig, ganz versunken in seine Tiere und Experimente?
Das stimmt, aber wie lange noch? Und was ist mit dir, Sorcha? Denn du bist nicht mehr unschuldig.
So stritt ich mit mir selbst und konnte diese andere Stimme nicht mehr ignorieren. Dennoch, es war quälend, es zu glauben: Konnten die Brüder, die sich um meine aufgeschlagenen Knie gekümmert und mich mit solcher Geduld an so vielen Kinderabenteuern beteiligt hatten, wirklich die grausamen Wilden sein, die der Junge beschrieben hatte? Und wenn das der Fall war, wo blieben dann ich und Finbar? Selbst mit zwölf war ich nicht so naiv zu glauben, dass nur eine Seite in diesem Konflikt fähig war zu foltern. Hatten wir den Feind gerettet? Konnte man niemandem trauen?
Vater Brien ließ sich Zeit. Ich blieb, wo ich war, während der Konflikt in mir langsam nachließ und mein Geist etwas von der Ruhe aufnahm, die von den alten Bäumen selbst ausging, und von dem Boden, der sie nährte. Dies war ein vertrautes Gefühl, denn es gab viele Stellen in diesem großen Wald, wo man seine Energie trinken und eins mit seinem uralten Herzen werden konnte. Wann immer einen etwas bekümmerte, konnte man an diesen Orten einen Weg finden. Ich kannte sie, und Finbar kannte sie; was die anderen anging, war ich nicht so sicher, denn häufig, wenn wir beide still in der Astgabelung einer großen Eiche hockten oder auf den Felsen lagen und ins Wasser starrten, machten sie Wettläufe oder kletterten oder schwammen im See. Auch dadurch erfuhr ich nun, wie wenig ich meine eigenen Brüder kannte.
Der Regen hatte vollkommen aufgehört, und im Schutz des Hains war die Luft feucht und frisch. Vögel kamen aus ihren Verstecken; ihr Lied erklang über mir, zog hoch über mir vorbei. In solchen ruhigen Augenblicken hatten Stimmen schon häufig zu mir gesprochen, und ich hatte geglaubt, es handele sich um die Waldgeister oder die Seelen der Bäume selbst. Manchmal spürte ich, dass es die Stimme meiner Mutter war, die da sprach. Heute waren die Bäume still, und ich war an einem weit entfernten Ort in meinem Geist, als eine geringfügige Bewegung auf der anderen Seite der Lichtung mich aufschrecken ließ.
Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Frau, die dort stand, nicht aus unserer Welt stammte; sie war ausgesprochen groß und schlank, ihr Gesicht war milchweiß, ihr schwarzes Haar reichte bis zu den Knien, und ihr Umhang hatte das tiefe Blau des westlichen Himmels zwischen Abend- und Morgendämmerung. Langsam stand ich auf.
»Sorcha«, sagte sie. Ihre Stimme war wie Musik, aber gleichzeitig auch furchterregend. »Du hast eine lange Reise vor dir. Du hast keine Zeit mehr zu weinen.«
Es schien ungeheuer wichtig, die richtigen Fragen zu stellen, solange ich die Gelegenheit hatte. Ehrfurcht lähmte mir die Zunge beinahe, aber ich zwang die Worte heraus.
»Sind meine Brüder wirklich böse? Sind wir alle verflucht?«
Sie lachte – ein leises Geräusch, aber es schwang eine Kraft mit, die über alles Menschliche hinausging.
»Kein Mensch ist wirklich böse«, sagte sie. »Das wirst du noch selbst
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