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Die Tochter der Wälder

Die Tochter der Wälder

Titel: Die Tochter der Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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gewinnen, musst du mit deinem Feind sprechen. Lerne ihn zu verstehen. Wenn du ihn ausschließt, wird er immer klüger sein als du. In deiner Zukunft liegen Tod und Leiden und eine lange Zeit des Bedauerns, wenn du diesen Weg weiter verfolgst. Viele werden mit dir gehen, aber ich werde nicht unter ihnen sein.«
    Sein Worte klangen seltsam; sein Tonfall ließ mich frösteln. Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte.
    »Ich will nichts mehr davon hören!« donnerte Vater und stand auf. »Du redest wie ein Narr von Angelegenheiten, die du nicht verstehen kannst. Ich schaudere, wenn ich mir vorstelle, dass einer meiner Söhne so wenig wissen kann und dennoch so unverschämt ist. Liam!«
    »Ja, Vater?«
    »Ich will, dass dein Bruder da ausgerüstet wird, um mit uns zu reiten, wenn wir uns wieder auf den Weg nach Norden machen. Kümmere dich darum. Er hat den Wunsch ausgesprochen, den Feind zu verstehen. Vielleicht wird er das ja, wenn er aus erster Hand Zeuge des Blutvergießens wird.«
    »Ja, Vater.« Liams Miene und Tonfall waren von wohleinstudierter Neutralität. Er warf Finbar allerdings einen kurzen, mitleidigen Blick zu. Er überzeugte sich nur zunächst davon, dass Vater das nicht bemerkte.
    »Und wo ist meine Tochter?«
    Ich trat zögernd vor, kam dabei an Finbar vorbei und streifte seine Hand mit meiner. Seine Augen glühten in einem Gesicht, aus dem alle Farbe gewichen war. Ich stand vor Vater, hin und her gerissen von Gefühlen, die ich kaum verstand. Sollte ein Vater denn seine Kinder nicht lieben? Wusste er denn nicht, wie viel Mut es gekostet hatte, dass Finbar so mit ihm sprach? Finbar sah die Dinge auf eine Weise, wie der Rest von uns es nie gekonnt hätte. Vater hätte das wissen sollen, denn die Leute behaupteten, unsere Mutter hätte dieselbe Gabe gehabt. Wenn er sich Zeit gelassen hätte, hätte er es gewusst. Finbar konnte in die Zukunft sehen, und wenn er vor etwas warnte, war es gefährlich, diese Warnung nicht zu beherzigen. Es war eine seltene Begabung, gefährlich und eine Last. Einige nannten es den Blick.
    »Komm noch ein wenig näher, Sorcha.«
    Ich war wütend auf Vater, und dennoch wollte ich, dass er mich anerkannte. Ich wollte sein Lob. Trotz allem konnte ich diesen Wunsch tief in mir nicht abtöten. Meine Brüder liebten mich. Wieso konnte Vater das nicht? Das waren meine Gedanken, als ich zu ihm aufblickte. Von ihm aus gesehen musste ich eine jämmerliche Figur abgegeben haben, dünn und ungepflegt, und meine Locken fielen mir zerzaust über die Augen.
    »Wo sind deine Schuhe, Kind?« fragte Vater müde. Er wurde langsam ruhelos.
    »Ich brauche keine Schuhe, Vater«, sagte ich, ohne groß nachzudenken. »Meine Füße sind rau und fest. Sieh doch«, und ich hob einen schmalen, schmutzigen Fuß, um ihn ihm zu zeigen. »Es ist nicht notwendig, dass ein Geschöpf stirbt, nur damit ich Schuhe trage.« Dieses Argument hatte ich gegenüber meinen Brüdern benutzt, bis sie seiner müde waren und mich barfuß laufen ließen, wenn mir das passte.
    »Welcher Diener ist für dieses Kind verantwortlich?« fauchte Vater gereizt. »Sie ist inzwischen zu alt, dass man sie einfach rennen lassen kann wie einen Hausiererjungen. Wie alt bist du, Sorcha – neun, zehn?«
    Wie konnte er es vergessen haben? War meine Geburt nicht gleichzeitig mit dem Verlust alles dessen, was er in der Welt geliebt hatte, erfolgt? Denn meine Mutter war am Mittwintertag gestorben, als ich noch keinen Tag alt war, und es hieß immer, ich hätte Glück gehabt, dass die dicke Janis, unsere Köchin, damals ein Baby und genug Milch für zwei hatte, oder ich wäre vermutlich auch tot. Es zeigte, wie gut es Vater gelungen war, dieses alte Leben vor sich selbst zu verschließen, dass er nicht mehr jede einsame Nacht, jeden leeren Tag seit ihrem Tod zählte.
    »Ich werde am Mittwinterabend dreizehn, Vater«, sagte ich und richtete mich so hoch auf, wie ich konnte. Vielleicht würde er mich ja dann für erwachsen halten und anfangen, richtig mit mir zu sprechen, wie mit Liam und Diarmid. Oder mich mit dieser Andeutung eines Lächelns betrachten, mit dem er sich manchmal Padraic zuwandte, der mir dem Alter nach am nächsten stand. Für kurze Zeit begegnete der Blick seiner dunklen, tiefliegenden Augen dem meinen, und ich starrte auf eine Weise zurück, die, wenn ich das auch nicht wusste, der meiner Mutter sehr ähnlich war.
    »Das genügt«, erklärte er abrupt. Sein Tonfall war wegwerfend. »Schafft diese Kinder hier heraus, wir haben zu

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