Die Tochter des Fotografen
auf die Fensterkästen, und im zweiten Stock war ein Fenster zerbrochen, gegen das man von innen Sperrholz genagelt hatte.
Caroline stieg aus. Sie trug flache, abgetretene Schuhe mit dünnen Sohlen, die sie hastig übergezogen hatte, als sie mitten in der Nacht aufbrechen mußte und ihre Stiefel nicht finden konnte. Ihre Füße waren sofort eiskalt. Sie schwang die Tasche über die Schulter, die ein Fläschchen, Windeln und eine Thermoskanne mit Säuglingsmilch enthielt, die sie in der Klinik vorbereitet hatte, nahm dann den Karton mit dem Baby hoch und betrat das Gebäude. Lampen aus Bleiglas, die lange nicht mehr geputzt worden waren, flankierten die Eingangstür. Eine zweite Tür aus Milchglas führte in eine Eingangshalle aus dunkler Eiche. Warme, von Küchengerüchen geschwängerte Luft – sie konnte Karotten, Zwiebeln und Kartoffeln ausmachen – zog an ihr vorbei. Caroline ging zögernd vorwärts, die Dielen knarrten unter jedem ihrer Schritte, aber niemand erschien. Ein abgewetzter Läufer lag auf den breiten Brettern des Flures, der in den hinteren Teil des Gebäudes zu einem Wartezimmer mit großen Fenstern und schweren Vorhängen führte. Sie setzte sich auf die Kante eines Sofas, dessen Samtbezug zerschlissen war, stellte den Karton dicht neben sich und wartete.
Der Raum war überheizt, und sie knöpfte ihren Mantel auf. Noch immer trug sie ihren weißen Schwesternkittel, und als sie ihr Haar berührte, stellte sie fest, daß selbst ihr spitzer weißer Hut noch auf ihrem Kopf saß. Gleich nachdem Dr. Henry sie angerufen hatte, war sie aufgestanden, hatte sich schnell angezogen und war in die verschneite Nacht aufgebrochen, und seitdem hatte sie sich keine Ruhepause gegönnt. Sie löste den Hut aus ihrem Haar, faltete ihn sorgfältig zusammen und schloß die Augen. Von weither drangen das Klappern von Besteck und das Summen menschlicher Stimmen an ihr Ohr. Über ihr hallten Schritte. Sie begann von ihrer Mutter zu träumen, die ein Festtagsessen vorbereitete, während ihr Vater in |36| der Holzwerkstatt arbeitete. In der Kindheit war sie manchmal ziemlich einsam gewesen, aber trotzdem waren ihr bestimmte Erinnerungen geblieben – ein besonderer Quilt, den sie eng an sich drückte, ein Teppich mit Rosen unter ihren Füßen, ein Geflecht von Stimmen, die nur ihr allein gehörten.
In der Ferne hörte sie eine Klingel, es läutete zweimal. »Ich brauche Sie jetzt hier«, hatte Dr. Henry gerufen, und in seiner Stimme lagen Anspannung und Dringlichkeit. Caroline hatte sich beeilt, hatte ein merkwürdiges Bett aus Kissen geformt und die Maske auf Mrs. Henrys Gesicht gedrückt, als der zweite Zwilling, dieses kleine Mädchen, in die Welt glitt und die Dinge in Bewegung setzte.
In Bewegung – ja, man konnte den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Allein das Sitzen auf diesem Sofa, in der Stille dieses Ortes, sogar das Warten war Bewegung. Es beunruhigte Caroline, daß die Dinge nicht zur Ruhe kamen, daß die Welt pulsierte.
Und nun das?
kreiste es in ihrem Kopf.
Nach all den Jahren das?
Denn Caroline Gill war schon einunddreißig Jahre alt, und all die Jahre hatte sie darauf gewartet, daß ihr wahres Leben anfing. Obwohl sie sich selbst das nie so eingestanden hatte. Trotzdem hatte sie seit ihrer Kindheit das Gefühl, daß ihr Leben nicht gewöhnlich verlaufen würde. Etwas Gravierendes würde in ihrem Leben geschehen – und sie würde erkennen, wann es soweit war. Sie hatte davon geträumt, eine große Pianistin zu werden, aber die Scheinwerfer, die die Bühne der Highschool beleuchteten, warfen ein ganz anderes Licht als die Lampen zu Hause; ihr greller Schein ließ sie erstarren. Als sie Mitte Zwanzig war, begannen ihre Freundinnen aus der Krankenpflegeschule zu heiraten und Familien zu gründen, und auch Caroline schwärmte für einige junge Männer, besonders für einen, der blaß und dunkelhaarig war und ein tiefes Lachen hatte. Eine Zeitlang, in ihrer romantischen Phase, träumte sie davon, daß er – und als er sich nicht meldete, |37| irgendein anderer – ihr Leben verändern würde. Doch im Laufe der Jahre wurde ihre Arbeit allmählich zu ihrem Lebensmittelpunkt, was sie ohne Bedauern hinnahm. Sie glaubte an sich und hatte Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Nie war sie auf halbem Weg stehengeblieben, um zu überlegen, ob sie das Bügeleisen angelassen hatte und das Haus niederbrennen würde. Sie arbeitete, wartete und las.
Erst las sie die Novellen von Pearl Buck und dann alles, was sie über das
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