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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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sie glaubte, das zweite Baby wäre tot zur Welt gekommen, klangen in ihrem Kopf nach. Sie hatte darauf gewartet, daß er Anstalten machte, es wiederzubeleben. Und als das nicht geschah, dachte sie plötzlich, sie sollte zu ihm gehen, um später alles bezeugen zu können: »Ja, das Baby war blau. Dr. Henry hat wirklich alles versucht. Wir beide haben alles versucht, aber man konnte nichts mehr tun.«
    |33| Aber dann schrie das Baby, und mit dem Schrei war sie an seiner Seite, und da sah sie es und verstand.
    Ihre Erinnerungen unterdrückend, fuhr sie weiter. Die Straße schnitt sich durch den Berg, und der Horizont verengte sich zu einem Trichter. Sie fuhr einen flachen Hügel hinauf und dann die lang abfallende Straße zu dem weit unter ihr liegenden Fluß hinunter. Hinter ihr, in seiner Kiste, schlief das Mädchen friedlich weiter. Caroline blickte von Zeit zu Zeit zu ihm und war beruhigt und gleichzeitig voller Sorge, als sie sah, daß es sich noch nicht bewegt hatte. Nach der Anstrengung, die es kostete, auf die Welt zu kommen, war so ein Schlaf normal. Sie sann über ihre eigene Geburt nach, aber ihre Eltern waren schon lange tot; es gab keinen mehr, der sich an diesen Moment erinnern konnte. Bei Carolines Geburt war ihre Mutter über Vierzig und ihr Vater schon zweiundfünfzig Jahre alt gewesen. Längst hatten die beiden ihre Hoffnung auf ein Kind aufgegeben, und selbst das Bedauern darüber hatten sie sich abgewöhnt. Ihr Leben verlief ruhig und in geordneten Bahnen, und sie waren zufrieden. So lange, bis Caroline, überraschend wie eine Blume, die durch den Schnee bricht, auf die Welt kam.
    Ihre Eltern hatten sie natürlich geliebt, aber es war eine besorgte Liebe gewesen, ernst und voller guter Absichten, überlagert von Umschlägen, warmen Socken und Rizinusöl. In den stillen, heißen Sommertagen, wenn sie Angst vor Kinderlähmung hatten, mußte Caroline im Haus bleiben. Wenn sie auf der Liege, die auf dem oberen Flur am Fenster stand, ruhte und las, rannen Schweißperlen von ihren Schläfen. Die Fliegen brummten gegen die Scheibe und lagen nach einer Weile tot auf dem Fensterbrett. Draußen flimmerte die Landschaft in der gleißenden Hitze, und man konnte die Rufe der Nachbarskinder in der Ferne hören, deren Eltern jünger und deshalb unbekümmerter waren. Caroline preßte Gesicht und Fingerspitzen gegen die Scheibe und lauschte. Sie sehnte sich nach draußen. Die Luft stand still, und Schweiß durchfeuchtete die |34| Ärmel ihrer Baumwollbluse und den gebügelten Bund ihres Rockes. Unten im Garten jätete ihre Mutter Unkraut; mit Handschuhen, einer langen Schürze und Hut. Später, in den dämmrigen Abendstunden, kehrte ihr Vater heim. Er ging den Weg von seinem Versicherungsbüro nach Hause zu Fuß. Wenn er das stille, verschlossene Haus betrat, nahm er seinen Hut ab. Unter seinem Jackett war sein Hemd fleckig und feucht.
    Sie fuhr nun über die Brücke, die Reifen surrten, tief unter ihr schlängelte sich der Kentucky River, und die Energie, mit der die vergangene Nacht aufgeladen war, schmolz dahin. Erneut warf sie einen kurzen Blick auf das Baby. Sie war sich sicher, daß Norah Henry dieses Kind in den Armen hätte wiegen wollen, selbst wenn sie es nicht behalten konnte. Das war genauso unstrittig wie die Tatsache, daß sie sich nicht in diese Angelegenheit einmischen sollte.
    Doch sie kehrte nicht um. Wieder schaltete sie das Radio ein, fand diesmal einen Sender, der klassische Musik spielte, und fuhr weiter.
    Dreißig Kilometer vor Louisville zog Caroline Dr. Henrys Wegbeschreibung, die in seiner klaren, engen Handschrift geschrieben war, zu Rate und verließ den Highway. Hier, nahe dem Ohio River, waren die Äste der Weißdorn- und Hackberrybüsche vereist, obwohl die Straßen frei und trocken waren. Weiße Zäune umgrenzten die schneebedeckten Wiesen. Dahinter bewegten sich dunkel Pferde, die beim Atmen kleine Wolken ausstießen. Caroline bog auf eine noch engere Straße, die durch offenes, welliges Land führte. Nach anderthalb Kilometern fahler Hügellandschaft erblickte sie das Backsteinhaus, das um die Jahrhundertwende gebaut worden war, wie man trotz der zwei niedrigen modernen Flügel unschwer erkennen konnte. Das Gebäude verschwand von Zeit zu Zeit, als sie den Kurven und Senken der Landstraße folgte, und stand dann plötzlich vor ihr.
    Sie bog in das Rondell der Einfahrt ein. Von nahem sah man, daß das alte Haus sich in einem leicht baufälligen Zustand |35| befand. Farbe blätterte

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