Die Tochter des Fotografen
Reinigungsmitteln, gedämpftem Gemüse und Urin hing in der Luft. Man hörte das Rattern von Servierwagen, Rufe und Gemurmel. Sie wandte sich von einer Seite zur anderen und ging dann eine Treppe hinunter, die in einen moderneren Trakt mit türkisfarbenen Wänden führte. Der Linoleumboden bedeckte nur lose die darunterliegenden Sperrholzplatten. Sie ging an mehreren |42| Türen vorbei und erblickte einige kurze Szenen aus dem Leben von Menschen, die wie Fotografien wirkten. Zuerst sah sie einen Mann unbestimmten Alters, das Gesicht im Schatten, der aus dem Fenster starrte, dann erblickte sie zwei Krankenschwestern mit hocherhobenen Armen, die ein Bett machten; das blasse Laken schwebte für einen Moment knapp unter der Decke. Darauf folgten zwei leere, mit Planen ausgelegte Zimmer, in denen Farbeimer in der Ecke standen. Die nächste Tür war verschlossen, und schließlich stand Caroline vor der letzten Tür. Sie war offen und gab den Blick auf eine junge Frau frei, die einen weißen Baumwollslip trug. Sie saß auf der Bettkante. Die Hände in ihrem Schoß waren locker ineinander verschränkt, und ihr Kopf war gebeugt. Eine andere Frau, eine Schwester, stand hinter ihr, und die Schenkel einer silbernen Schere blitzten auf. Dunkles Haar fiel auf die weißen Laken und legte den Nacken der Frau frei, der anmutig und blaß war. Caroline hielt inne.
»Ihr ist kalt«, hörte sie sich sagen, und beide Frauen blickten auf. Die Frau auf dem Bett hatte große Augen, die dunkel in ihrem Gesicht glühten. Ihr Haar, das einst ziemlich lang gewesen war, sprang nun zottig um ihr Kinn.
»Ja«, stimmte ihr die Schwester zu und schickte sich an, Haare von der Schulter der Frau zu fegen, die daraufhin einen Moment im trüben Licht schwebten, bevor sie sich auf die Laken und das grau gesprenkelte Linoleum legten. »Aber das war nötig.« Ihre Augen verengten sich, als sie Carolines zerknitterte Schwesternkleidung und ihr unbedecktes Haar musterte. »Sind Sie neu hier?« fragte sie mißtrauisch.
Caroline nickte. »Ja, ich bin neu«, antwortete sie.
Wenn sie später an diesen Moment zurückdachte, an eine Frau mit einer Schere und eine andere, die, nur mit einem Slip bekleidet, inmitten ihrer abgeschnittenen Haare saß, löste das Bild unendliche Leere und Sehnsucht in ihr aus. Wonach sie sich sehnte, wußte sie nicht. Das Haar, für immer verloren, lag weit verstreut umher und wurde vom kalten Licht, |43| das durch das Fenster fiel, beschienen. Caroline spürte, daß ihre Augen feucht wurden. Aus einer anderen Halle kamen Stimmen, und sie dachte an das Baby, das sie, in seinem Karton schlafend, auf dem Samtsofa im Wartezimmer liegengelassen hatte. Sie drehte sich um und eilte zurück.
Alles war noch so, wie sie es zurückgelassen hatte. Die Schachtel mit den roten Putten stand auf dem Sofa, und auch das Mädchen schlief noch, die Hände unter seinem Kinn zu kleinen Fäusten geballt.
Phoebe
hatte Norah Henry sie genannt, bevor sie, vom Gas betäubt, das Bewußtsein verlor. »Wenn es ein Mädchen wird, nennt sie Phoebe.«
Phoebe. Caroline faltete vorsichtig die Decken auseinander und hob das Mädchen hoch. Sie war winzig, nur 2500 Gramm schwer, viel kleiner als ihr Bruder, hatte aber das gleiche volle dunkle Haar. Caroline überprüfte ihre Windel – das Kindspech hatte teerartige Flecken auf dem feuchten Stoff hinterlassen –, wechselte sie und wickelte die Kleine dann wieder ein.
Das Baby war nicht einmal aufgewacht, und Caroline hielt es einen Moment in ihren Armen, fühlte, wie leicht und klein es war, und spürte seine Wärme. Sogar im Schlaf zog ein wechselhaftes Mienenspiel über das kleine Gesicht des Säuglings, das unbeständig war wie Wolken am Himmel. Einmal erkannte Caroline Norah wieder, ein anderes Mal den Gesichtsausdruck, den David Henry annahm, wenn er konzentriert zuhörte.
Sie legte Phoebe in den Karton zurück und schlug sie locker in die Decken ein. Dabei dachte sie an David Henry, wie er, von Müdigkeit gezeichnet, an seinem Schreibtisch ein Käsesandwich aß, eine Tasse mit lauwarmem Kaffee leerte und sich dann erhob, um, wie jeden Dienstagabend nach Dienstschluß, die Türen für bedürftige Patienten zu öffnen, die er kostenlos behandelte. An diesen Abenden war das Wartezimmer immer voll, und er war oft noch da, wenn Caroline todmüde um Mitternacht nach Hause ging. Seine Güte war |44| es gewesen, derentwegen sich Caroline in ihn verliebt hatte. Dennoch hatte er sie hierhergeschickt; an einen Ort, an
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