Die Tochter des Königs
lief den Pfad entlang, rutschte im Schlamm aus, als der erste Donnerschlag über die Berge hallte.
Sie riss die Augen auf, dann lag sie da und starrte zur Decke empor. Eine Sekunde verweilte der Traum noch bei ihr, dann war er verschwunden, während ihr das Trommeln des Regens auf den Schindeln über ihr und auf den Pflastersteinen unten im Hof ins Bewusstsein drang. Es regnete und donnerte tatsächlich. Ein weiterer Schlag grollte ums Haus. Jess setzte sich auf und schaltete das Licht an.
Dann ging sie in die Küche und schaute in die Dunkelheit hinaus. In ihrem Traum war ein Kind vorgekommen. Ein Kind, das sich verlaufen hatte. Sie schauderte. Es musste schrecklich sein, in einer Nacht wie dieser draußen zu sein. Gerade wollte sie nach dem Wasserkessel greifen, als sie hinter der Tür, die in den Durchgang zu Stephs Atelier führte, ein Krachen hörte. Schaudernd zog sie den Morgenmantel fester um sich. Sie sollte nachsehen, was passiert war. Vielleicht hatte sich durch den Wind oder den Regen eine Dachschindel gelöst, oder ein Fenster war aufgeflogen. Wenn sie nichts unternahm, könnte vielleicht ein richtiger Schaden entstehen. Ihre plötzliche Angst war völlig irrational. Hier war sie sicher. Hier, in diesem behaglichen Haus, hatte sie vor nichts und niemandem etwas zu befürchten. Es gab nichts, wovor sie Angst zu haben brauchte, außer vielleicht dem Zorn ihrer Schwester, wenn ein wertvolles Stück zu
Bruch gegangen war. Jess ging zur Tür und presste das Ohr gegen das Holz. Der Regen prasselte aufs Dach und schoss aus der Regenrinne auf die Pflastersteine im Hof. Langsam drehte sie den Schlüssel. Erst nach mehreren Sekunden fand sie den Mut, die Tür tatsächlich zu öffnen. Im Durchgang war es dunkel, eine feuchte Kälte schlug ihr entgegen. Irgendwo musste ein Fenster aufgegangen sein. Nach einem tiefen Atemzug lief sie die paar Schritte zur Tür des Ateliers, schloss sie auf und tastete nach dem Lichtschalter. Im kalten Schein der Lampen oben an den alten Deckenbalken sah sie sofort, dass ein Karton mit fertigen Figuren, bereits verpackt für die Zustellung, am Boden lag. Der Karton war aufgegangen, die darin liegenden Figuren in tausend Scherben zerbrochen.
»O nein!«
Jess bückte sich und fuhr vorsichtig über die Scherben der exquisiten Töpferfiguren. Dann schaute sie auf und sah sich um. Kein Fenster stand offen. Im Atelier war es zwar sehr kalt, aber jetzt spürte sie keine Zugluft mehr, nichts, das den Karton vom Tisch gefegt haben könnte. Traurig stand sie auf. Vielleicht war ein Tier hereingekommen, eine Katze oder ein Vogel. Wieder sah sie sich um, dieses Mal etwas gründlicher, aber das Prasseln des Regens übertönte alle Geräusche, die ein Tier eventuell machte. Jess wurde zunehmend nervös. Sie zwang sich, das ganze Atelier abzusuchen, inspizierte die Regale, schaute in die Dunkelheit hinter dem Brennofen, drehte am Knauf der Tür zum Hof, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich abgeschlossen war, schaute auf Zehenspitzen zwischen den Dosen und Flaschen auf den oberen Regalen nach, fuhr mit dem Finger über den hellroten Tonstaub auf dem Tisch. Da war niemand, keine Spur von einem Eindringling. Abgesehen vom Karton schien nichts beschädigt zu sein. Schließlich drehte
sie sich noch einmal um die eigene Achse, um alles zu überprüfen. Vor den Fenstern zuckte ein Blitz. Der Regen ließ nach. Plötzlich wurde sie sich der absoluten Stille im Atelier bewusst. Sie hastete zur Tür, sah sich noch ein allerletztes Mal um, schaltete das Licht aus, zog die Tür ins Schloss und sperrte hinter sich ab.
Als sie wieder in der warmen Küche stand, zitterte sie am ganzen Leib. Sie zog die bunt geblümten Rollos herunter und schloss die schwarze Nacht hinter den Fenstern aus. Gerade wollte sie wieder nach dem Kessel greifen, als sie direkt hinter sich eine Stimme flüstern hörte:
Können wir jetzt mit dem Spiel aufhören?
Sie erstarrte. Die Stimme aus dem Traum war jetzt bei ihr im Raum.
Hier draußen ist es kalt und nass. Lass mich rein.
Nein, sie war nicht bei ihr im Raum. Sie war draußen. Jess lief zur Tür, die in den Hof führte, und griff nach dem Riegel, doch dann zögerte sie. »Hallo?«, rief sie und lauschte auf eine Antwort. Sie bekam keine. »Bist du da draußen?« Langsam schloss sie die Tür auf. Hier gab es keine Sicherheitskette wie bei ihr in London. Jess nahm allen Mut zusammen, öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Dort draußen war es immer noch windig und
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