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Die Tochter des Königs

Titel: Die Tochter des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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regnerisch. Sie hörte die Äste der Bäume knarzen, hörte Blätter gegen die Hausmauern schlagen, Wasser in ein überlaufendes Fass plätschern. Vorsichtig tastete sie nach dem Schalter für das Außenlicht. Der Hof war verwaist, die Windschutzscheibe ihres Autos war mit Eschenblättern verklebt, in einer Pfütze spiegelte sich das Küchenlicht. Vor der Tür lag eine kaputte Dachschindel. Jess sah sich mehrere Sekunden prüfend um. Da war niemand. Wie auch? Sie warf die Tür ins Schloss und sperrte sie rasch wieder zu. Das Kind gehörte zu ihrem Traum, sonst nichts.

    Oben in ihrem Zimmer legte sie sich wieder ins Bett, ohne das Licht auszuschalten. Sie hatte sich noch nie derart einsam und verlassen gefühlt. Stunden schienen zu vergehen, ehe sie die Augen schloss und in einen unruhigen Schlaf fiel. Wenige Sekunden später war sie wieder in dem gleichen Traum gefangen.
     
    »Kinder, beeilt euch!« Eigon, die älteste Tochter von König Caradoc, hörte die Panik in der Stimme ihrer Mutter. Das machte ihr Angst. Ihre Mutter kannte keine Furcht. Cerys war eine mutige, unerschütterliche, wunderschöne Frau, die von ihrem Mann und ihren drei Kindern vergöttert, vom Volk ihres Mannes geachtet und von ihrer Dienerschaft geliebt wurde.
    Die Boten waren vom weiten Flusstal den steilen Abhang hinaufgehastet und hatten, zitternd vor Angst und Erschöpfung, die bereits befürchtete Nachricht überbracht: Sie hatten eine entsetzliche Niederlage erlitten. Die Schreie der Schlacht, das schrille Wiehern der Pferde, der Schein der lodernden Flammen waren aus der Ferne zu ihnen herübergedrungen, während sie hinter den Palisaden gewartet und gebetet hatten. Bis jetzt war Cerys stark gewesen, überzeugt vom Sieg ihres Gemahls Caradoc. Er war ein Krieger, der Held seines Volkes.
    Als jüngerer Sohn des Königs der Catuvellaunen war sein Aufstieg zum Anführer aller noch verbliebenen Gegner der römischen Eindringlinge außergewöhnlich schnell und aufsehenerregend vor sich gegangen. Dank seiner Fähigkeiten als Feldherr war er nach dem Tod seines älteren Bruders zuerst König seines eigenen Volkes geworden und dann Anführer des Bündnisses der westlichen Stämme, die noch gegen das römische Joch aufbegehrten. Bis zu diesem Augenblick war er unbezwingbar gewesen. Er würde sie zum
Sieg führen und die Römer aus dem Land vertreiben. Er war der größte König, den die britischen Stämme je gekannt hatten.
    Kreidebleich vor Entsetzen nahm Cerys den stockend vorgetragenen Bericht des Boten entgegen. Auf dem Schlachtfeld in der sanften Biegung eines Arms des großen Flusses Sabrina war es an dem Abend zu einem Blutvergießen gekommen, wie es die Männer unter Caradocs Befehl noch nie erlebt hatten. Die Römer hatten den Sieg davongetragen, der König - ihr Gemahl - war in die Nacht geflohen, und eine Kohorte römischer Veteranen war vom Schlachtfeld, auf dem die Toten bereits geplündert wurden, zu der Bergfestung aufgebrochen, in der Caradocs Gemahlin und ihre Kinder seine Rückkehr erwarteten.
    Cerys befahl allen, die sich noch in der Festung aufhielten, zu fliehen, nahm Eigon an die Hand und ging durch das große Eichentor, gefolgt von der Amme Alys sowie Blodeyn, einer ihrer Damen. Gemeinsam kümmerten sie sich um Eigons jüngere Schwester Gwladys und den kleinen Togo. In Umhänge gehüllt und mit nichts bei sich als den Kleidern, die sie am Leib trugen, liefen die Frauen keuchend den Berg hinab, rutschten und glitten in der Dunkelheit immer wieder aus.
    »Hier lang!« Cerys schlug sich seitwärts in den Schutz der Bäume, die den westlichen Abhang des Bergs und das Tal zu seinem Fuß bedeckten. »Hier finden sie uns nicht.« Lautlos betete sie zu der Göttin dieser Wälder, dass sie Recht behalten möge.
    Wie aus dem Nichts zog ein Sommergewitter auf, der Wind wurde immer heftiger. Er klang wie das Donnern der Wellen, die an den Strand schlugen. Die drei Frauen liefen mit den Kindern unter die peitschenden Äste, doch versperrte ihnen Dornengestrüpp den Weg.

    »Wohin jetzt?« Alys spähte durch die Dunkelheit und warf dann einen Blick über die Schulter zurück. Die Römer hatten die Festung bereits erreicht. Doch die lodernden Flammen des in Brand gesetzten Staketenzauns waren von hier nicht mehr zu sehen, und über das Ächzen der Bäume hörten sie auch die Schreie der Soldaten nicht mehr.
    »Mama!« Eigon klammerte sich an den Umhang ihrer Mutter.
    Cerys bückte sich und küsste ihre Tochter auf den dunklen Scheitel.

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