Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
1
Zehnter Monat, Jahr des Hahns, sechstes Jahr der Meiji-Ära (November 1873)
Ein aromatischer Geruch drang durch die Türvorhänge und die Fensterritzen der Schwarzen Päonie, des berühmtesten Restaurants in ganz Tokyo. Taka klammerte sich an den Radschutz der Rikscha, um nicht vom Sitz zu rutschen, als das Gefährt mit einem Ruck davor zum Stehen kam und der Junge die Stangen zu Boden fallen ließ. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Der Geruch erfüllte die Luft, ähnlich wie der von gegrilltem Aal, aber kräftiger, öliger, schwerer. Rindfleisch, gebratenes Rindfleisch: der Geruch des neuen Zeitalters, der Zivilisation, der Aufklärung. Und sie, Taka Kitaoka, mit ihren äußerst erwachsenen dreizehn Jahren, würde es zum ersten Mal probieren.
Ihre Mutter Fujino war bereits aus der vorderen Rikscha gestiegen und mit einem Rascheln ihrer ausladenden taubengrauen Röcke durch den Eingang verschwunden. Tante Kiharu tippelte hinter ihr her, winzig und elegant in Kimono und eckig geschnittener Haori-Jacke, wie ein kleines Schiff hinter einem riesigen Dampfer, gefolgt von Takas Schwester Haru in einem Prinzesskleid, das Haar zu einem glänzenden Chignon aufgesteckt.
Auch Taka war im westlichen Stil gekleidet. Zum ersten Mal trug sie so ein Kleid und war zugleich stolz, befangen und ein wenig nervös. Das rosarote Tageskleid hatte eine enge Taille und eine leichte Turnüre, war nagelneu und speziell für sie bei einem Schneider in Yokohama in Auftrag gegeben worden. Taka hatte ihre Dienerin Okatsu angewiesen, ihr Korsett so eng zu schnüren, dass sie kaum atmen konnte. Zusätzlich trug sie ein Jäckchen, Handschuhe und eine dazu passende Kapotte. Sorgsam hob sie ihre Röcke, als sie durch den Vorraum ging, vorbei an aufgereihten Stiefeln, die nach Leder und Schuhcreme rochen.
Im Inneren der Schwarzen Päonie war es heiß, dampfig und voll von außerordentlichen Gerüchen und Geräuschen. Rauch von bratendem Fleisch vermischte sich mit Tabakqualm, der schwer über dem Raum hing. Durch das Gewirr von Stimmen und Gelächter, Schlürfen und Schmatzen erklangen raue Rufe wie »Hier herüber! Noch einen Teller von eurem guten Fleisch!«, »Das Feuer geht aus. Bring mehr Holzkohle, rasch!«, »Noch ein Fläschchen Sake!« Als wohlerzogene junge Dame wusste Taka, dass sie ihren Blick züchtig auf die Röcke ihrer Mutter gerichtet halten sollte, aber sie konnte nicht anders. Sie musste sich einfach umschauen.
Der Raum war berstend voll mit Männern, großen und kleinen, alten und jungen, die sich im Schneidersitz um quadratische Tische mit jeweils einem Kohlebecken in der Mitte niedergelassen hatten. Sie senkten ihre Stäbchen in gusseiserne Pfannen, in denen etwas Fleischiges brutzelte und blubberte, als wäre es lebendig, und dabei die Farbe von Rot zu Braun veränderte. Die Männer waren auf das Außergewöhnlichste gekleidet, einige traditionell in lockere Gewänder und Obis, andere in Hemden mit hohen Kragen und Brusttaschen, aus denen gewaltige Chronometer baumelten, sowie steifkrempige Hüte und dazu zusammengerollte schwarze Schirme neben sich am Boden. Papierstreifen waren an die Wände geheftet, mit aufgepinselten Wörtern in der eckigen Katakana-Schrift, die sie als fremdländisch auswiesen: Miruku, Cheezu, Bata – »Milch«, »Käse«, »Butter« – Wörter, die jedem, der als modern gelten wollte, zumindest vorgeblich vertraut sein sollten.
Noch nie war Taka an einem so exotischen Ort gewesen oder hatte eine solche Ansammlung erschreckend modischer Menschen gesehen. Verwundert schaute sie sich um, errötete und senkte rasch den Blick, als sie merkte, dass die Männer sie anstarrten.
»Otaka!«, rief ihre Mutter sie mit der höflichen Anredeform von Takas Namen.
Taka raffte die Röcke und eilte ihrer Mutter durch den Flur und in einen Nebenraum nach. Schwere Holzmöbel warfen im flackernden Licht der Kerzen und Öllampen lange Schatten. Bedienungen schoben die Türen hinter ihr zu, doch die rauen Rufe und das Gelächter waren immer noch zu hören. Taka setzte sich auf einen Stuhl, glättete ihre Röcke und war bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie unbehaglich sie sich mit den baumelnden Beinen fühlte, statt sie wie üblich unterzuschlagen. Ihre Mutter hatte sich über drei Stühle ausgebreitet, um Platz für all die Rüschen und Volants ihres Teekleides zu haben. Bedienungen fächelten die Holzkohle im Becken an, trugen Platten mit dunkelrotem, glänzendem Fleisch
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