Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
dem kleinen Fenster spähte oder ausstieg, um sich die Beine zu vertreten, sah sie nur endlose Reihen von Menschen und Palankins, eskortiert von Bediensteten, Wachleuten, Trägern und schwer beladenen Pferden. Sie kamen durch Wälder, überquerten Berge, und Taka sah zum ersten Mal das glitzernde Wasser des Ozeans.
Edo, ihr neues Zuhause, war die größte, reichste und aufregendste Stadt der Welt. Bis vor Kurzem war es ein Ort der Daimyo-Paläste und Samurai-Residenzen gewesen, der schmalen Straßen voller Handwerker und Kaufleute, dargestellt auf unzähligen Farbholzschnitten. Durch die Anwesenheit des Kaisers wurde die Stadt noch aufregender. Edo wurde zur neuen Hauptstadt erklärt und bekam einen neuen Namen: To-kyo, »die Östliche Hauptstadt«. Kyoto war einfach nur »die Hauptstadt« gewesen.
Tokyo war demnach gerade erst fünf Jahre alt. Eine junge Stadt, berstend vor Lärm und Energie, in der Menschen umhereilten und die außergewöhnlichen neuen Bauten bestaunten, die überall errichtet wurden. Bei Takas Ankunft war die Ginza, wo sich die Schwarze Päonie befand, noch eine unscheinbare Gegend mit schäbigen, aus Holz gebauten Geschäften gewesen, in denen Truhen und Stoffe verkauft wurden. Im vergangenen Jahr hatte ein großes Feuer gewütet, und der Bezirk war vollkommen niedergebrannt. Jetzt war er wiederaufgebaut und zu einem magischen Ort mit prächtigen Gebäuden aus Ziegel und Stein geworden, mit Kolonnaden und Balkonen, von denen Herren in Inverness-Mänteln und Damen in voluminösen westlichen Kleidern auf die vorbeifahrenden Rikschas und von Pferden gezogenen Omnibusse hinabschauten, als wäre die ganze Welt eben erst zum Leben erwacht.
Die Menschen sagten, und vielleicht stimmte das ja, sie hätten zum ersten Mal das Gefühl, ihr Schicksal selbst bestimmen zu können. Unter der Herrschaft des Shogun waren Kleidung und Haarstil per Gesetz verordnet worden. Ein Mann des Samurai-Standes durfte sich nur wie ein Samurai kleiden, ein Mann aus dem Kaufmannsstand nur wie ein Kaufmann. Doch nun konnte sich jeder, der das Geld dazu besaß, nach der Mode der neuen Zeit kleiden, und niemand würde wissen, zu welchem Stand er einst gehört hatte. Die neue Regierung unterstützte diese Bestrebungen nach Kräften. Wenn die Menschen wirklich modern sein wollten, brauchten sie nur ein wenig Fleisch zu essen.
Und jetzt bevölkerten Männer aus dem Westen die Straßen. Takas Mutter hatte ihr erzählt, wie zu der Zeit, als Fujino noch ein Kind gewesen war, lange vor Takas Geburt, schwarze Schiffe in die Bucht von Edo eingelaufen waren und bleichgesichtige Barbaren mit grotesken Zügen, riesigen Nasen und furchterregenden Waffen gebracht hatten. Inzwischen waren die Barbaren überall, bauten Gebäude im westlichen Stil, errichteten Leuchttürme und installierten Telegrafen, wenn sie auch nach wie vor überall angestarrt wurden.
Taka sah sie oft auf den Straßen. Einer der Barbaren kam sogar ins Haus und brachte ihr Englisch bei. Sie wirkten sehr fremdländisch, eigentlich kaum menschlich, doch Taka wusste, dass man sie bewundern musste, weil Zivilisation und Aufklärung von ihnen abhingen. Die Regierung bestärkte zumindest die Männer darin, sich in westlichem Stil zu kleiden, Fleisch zu essen wie die Barbaren und westliche Sprachen zu lernen, damit Japan sich der Außenwelt anschließen und den westlichen Nationen gleichgestellt werden konnte. Frauen nahmen die neue Mode weniger an, aber Geishas waren immer Schrittmacherinnen gewesen, und vor allem Takas Mutter war ihrer Zeit stets voraus.
Sogar der Kalender hatte sich geändert. Das vergangene Jahr war das fünfte der Regentschaft von Kaiser Meiji gewesen, ein Yang- und Wasser-Jahr des Affen laut dem traditionellen Kalender, dem das sechste hätte folgen sollen, ein Yin- und Wasser-Jahr des Hahns. Doch dann hatte die Regierung mit einer außerordentlichen Proklamation festgelegt, dass das Jahr am zweiten Tag des zwölften Monats enden würde. Der folgende Tag würde zum 1. Januar des neuen Jahres werden, mit der Zahl 1873 nach dem westlichen Kalender.
Der alte Kalender hatte einen Sinn ergeben, der neue nicht. Nach Ansicht aller war 1873 nur eine willkürliche Zahl. Denn wer könnte sich schließlich eintausend, achthundert und dreiundsiebzig Jahre zurückerinnern oder die geringste Ahnung haben, warum der Kalender ausgerechnet dann beginnen sollte? Die meisten beachteten den neuen Kalender nicht und benutzten weiterhin den alten, genau wie sie den neuen
Weitere Kostenlose Bücher