Die Toechter der Kaelte
das Unausweichliche noch etwas aufschieben zu können - sich in das Stockwerk über ihr und zu der dort wartenden Wirklichkeit zu begeben.
Als spürte sie, woran Charlotte dachte, fragte Erica, wie es mit der Haussuche vorangehe.
»Langsam. Viel zu langsam. Niclas arbeitet irgendwie ständig und hat nie Zeit, herumzufahren und sich etwas anzuschauen. Außerdem ist das Angebot im Moment nicht besonders groß, also werden wir hier wohl noch eine ganze Weile festhängen.« Sie seufzte tief.
»Das geht bestimmt bald in Ordnung.« Ericas Stimme klang tröstend, aber leider schenkte Charlotte ihrer Versicherung wenig Glauben. Niclas, sie und die Kinder hatten bereits ein halbes Jahr bei ihrer Mutter und Stig gewohnt, und wie es im Moment aussah, würde es wohl mindestens noch ein weiteres halbes Jahr so bleiben. Sie wußte nicht, ob sie das durchstand. Für Niclas war es nicht wirklich ein Problem, er war ja von morgens bis abends in der Praxis, aber für Charlotte, die hier mit den Kindern eingesperrt saß, war es unerträglich.
Theoretisch hatte die Sache damals, als Niclas mit dem Vorschlag kam, so gut geklungen. In Fjällbacka war die Stelle eines Bezirksarztes frei geworden, und nach fünf Jahren in Uddevalla hatten sie nichts gegen einen Tapetenwechsel. Außerdem war Albin unterwegs, gezeugt als letzter Versuch, ihre Ehe zu retten, und warum sollte man das Leben dann nicht völlig ändern, noch mal ganz von vorn anfangen? Je mehr er geredet hatte, desto besser hatte es geklungen. Und daß sie direkten Zugang zu einem Babysitter bekämen, jetzt, wo sie doch zwei Kinder haben würden, war auch verlockend. Aber die Wirklichkeit zeigte rasch ihr wahres Gesicht. Es dauerte nur ein paar Tage, bis Charlotte wieder genau wußte, warum sie so erpicht darauf gewesen war, zu Hause auszuziehen. Andererseits hatten sich gewisse Dinge geändert, genau wie sie gehofft hatten, doch über diese Sachen konnte sie mit Erica nicht sprechen, so gern sie es auch wollte. Das mußte ein Geheimnis bleiben, sonst könnte es ihre ganze Familie zerstören.
Ericas Stimme riß sie aus ihren Gedanken. »Wie steht’s denn mit der Mutter, treibt sie dich in den Wahnsinn?«
»Das ist noch untertrieben. Alles, was ich mache, ist falsch. Ich bin zu streng zu den Kindern, ich bin zu nachgiebig, ich ziehe ihnen zu wenig an, ich ziehe ihnen zu viel an, sie bekommen zu wenig zu essen, ich stopfe sie zu voll, ich bin zu dick, ich bin zu unordentlich … Das Gemeckere hat nie ein Ende, ich habe es so satt.«
»Und bei Niclas?«
»O nein, Niclas ist in Mamas Augen perfekt. Sie scharwenzelt gurrend um ihn herum und bedauert ihn, weil er eine so minderwertige Frau hat. In ihren Augen kann er überhaupt nichts falsch machen.«
»Aber sieht er denn nicht, wie sie dich behandelt?«
»Wie gesagt, er ist doch nie zu Hause. Und sie reißt sich zusammen, wenn er da ist … Weißt du, was er gestern meinte, als ich so dreist war, mich bei ihm zu beklagen? >Aber Charlotte, bitte, kannst du dich nicht ein bißchen bemühen?< - Ein bißchen bemühen? Wenn ich mich noch mehr bemühe, werde ich völlig ausradiert. Ich wurde so wütend, daß ich seitdem kein Wort mit ihm gesprochen habe. Also sitzt er jetzt wohl bei der Arbeit und tut sich selbst leid, weil er eine so unvernünftige Frau hat. Kein Wunder, daß ich diesen Morgen eine Wahnsinnsmigräne bekam.«
Ein Geräusch aus dem Obergeschoß brachte Charlotte dazu, sich lustlos zu erheben.
»Du, ich muß jetzt wohl hoch und Albin übernehmen. Sonst betet Mama noch ihre ganze Märtyrerlitanei herunter, bevor ich überhaupt die Treppe hoch bin … Aber du, ich schaue am Nachmittag zum Kaffee vorbei. Ich habe ja nur von mir geredet und nicht mal gefragt, wie es dir geht. Aber du siehst mich dann später.«
Sie legte auf und kämmte sich rasch die Haare, bevor sie tief durchatmete und die Treppe hinaufstieg.
So hatte es nicht sein sollen. So hatte es absolut nicht sein sollen. Sie hatte Unmengen von Büchern übers Kinderkriegen und über das Leben als Eltern durchgeackert, aber nichts von dem Gelesenen hatte sie auf die Wirklichkeit, die sie erwartete, vorbereitet. Eher kam es ihr vor, als wäre alles, was man schrieb, Teil eines großen Komplotts. Die Autoren berichteten von Glückshormonen und daß man wie auf rosaroten Wolken schwebte, wenn man sein Kind in den Armen hielt, und natürlich empfinde man schon beim ersten Anblick eine umwerfende Liebe zu dem kleinen Bündel. Zwar wurde zuweilen in einem
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