Die Tore der Welt
war
sprachlos. Sie hatte Annet nie als traurigen Menschen gesehen. Für sie war
Annet immer eine mächtige, bedrohliche Figur gewesen, die stets darauf
hinarbeitete, Wulfric zurückzubekommen. Genau das aber würde niemals geschehen.
Annet sagte: »Ich weiß,
es ärgert dich, wenn Wulfric nett zu mir ist. Ich würde gern sagen, dass es
nicht wieder vorkommt, aber ich kenne meine Schwächen. Musst du mich dafür
hassen? Lass es uns nicht die Freude an der Hochzeit und den Enkeln verderben,
auf die wir uns beide freuen. Statt mich als deine lebenslange Feindin zu
sehen, könntest du mich doch als missratene Schwester betrachten, die sich
manchmal daneben benimmt und dich rasend macht, aber trotzdem zur Familie
gehört und entsprechend behandelt werden muss?«
Sie hatte recht.
Gwenda hatte Annet immer als hübsches Gesicht auf hohlem Kopf betrachtet, doch
bei dieser Gelegenheit war sie die weisere von ihnen, und Gwenda kam sich klein
vor. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Vielleicht sollte ich es versuchen.«
Annet trat vor und
küsste Gwenda auf die Wange. Gwenda spürte Annets Tränen auf ihrer Haut.
»Danke«, sagte Annet.
Gwenda zögerte,
dann legte sie die Arme um Annets knochige Schultern und drückte sie.
Überall ringsum
applaudierten und jubelten die Dörfler.
Dann begann wieder
Musik zu spielen.
Anfang November las
Philemon eine Dankesmesse zum Ende der Pest. Erzbischof Henri kam mit Kanonikus
Claude. Auch Sir Gregory Longfellow reiste an.
Sir Gregory kommt
nach Kingsbridge, um die Entscheidung des Königs zu verkünden, wer neuer
Bischof wird, dachte Merthin. Offiziell überbrachte er den Mönchen die
Botschaft, dass der König eine bestimmte Person bevorzuge, und es läge an den
Mönchen, ob sie diese Person wählten oder jemand anderen; doch am Ende stimmten
die Mönche gewöhnlich für den, den der König ausgesucht hatte.
Merthin konnte
Philemons Gesicht nichts entnehmen, und er vermutete, dass Gregory des Königs
Empfehlung noch nicht verkündet hatte. Diese Entscheidung bedeutete für Merthin
und Caris alles. Erhielt Claude das Amt, gehörten ihre Sorgen der Vergangenheit
an. Er war gemäßigt und der Vernunft zugänglich. Wurde aber Philemon neuer
Bischof, standen ihnen Jahre der Streitigkeiten und Gerichtsprozesse bevor.
Henri las die
Messe, aber Philemon hielt die Predigt. Er dankte Gott, dass der Herr die
Gebete der Mönche von Kingsbridge erhört und die Stadt vor den schlimmsten
Folgen der Pest bewahrt hatte.
Davon, dass die
Mönche geschlossen nach St.-John-in-the-Forest geflohen waren und die Städter
sich selbst überlassen hatten, sprach er nicht, und er ließ auch unerwähnt,
dass Caris und Merthin Gott geholfen hatten, die Gebete der Mönche zu erhören,
indem sie die Stadttore sechs Monate lang geschlossen hielten. Er ließ es klingen,
als hätte er Kingsbridge gerettet.
»Ich könnte aus der
Haut fahren«, sagte Merthin zu Caris, ohne auch nur daran zu denken, die Stimme
zu senken. »Er verdreht alle Tatsachen!«
»Nur ruhig«,
erwiderte sie. »Gott kennt die Wahrheit, und die Menschen hier auch. Philemon
kann niemanden täuschen.«
Sie hatte natürlich
recht. Nach einer Schlacht dankten die Soldaten der siegreichen Seite stets
Gott, und dennoch kannten sie den Unterschied zwischen guten Feldherren und
schlechten.
Nach dem
Gottesdienst war Merthin als Ratsältester geladen, mit dem Erzbischof im
Priorspalast zu Mittag zu essen. Man setzte ihn neben Kanonikus Claude. Kaum
war das Tischgebet gesprochen, brach ein allgemeines Stimmengewirr aus, und
Merthin wandte sich leise und drängend an Claude. »Weiß der Erzbischof schon,
wen der König zum Bischof nominiert hat?«
Claude antwortete
mit einem beinahe nicht wahrnehmbaren Nicken.
»Seid Ihr es?«
Claudes
Kopfschütteln fiel genauso minimal aus.
»Philemon also?«
Erneut das winzige
Nicken.
Merthin sank der
Mut. Wie konnte der König den Toren und Feigling Philemon einem tüchtigen,
vernünftigen Mann wie Claude vorziehen? Doch er kannte die Antwort. Philemon
hatte sich immer ins rechte Licht zu setzen gewusst. »Hat Gregory die Mönche
schon instruiert?«
»Nein.« Claude
beugte sich näher. »Vermutlich wird er Philemon heute Abend nach dem Essen
inoffiziell unterrichten und morgen früh im Kapitelhaus zum Konvent sprechen.«
»Also haben wir bis
heute Abend Zeit.«
»Wozu?«
»Seinen Sinn zu
ändern.«
»Das könnt Ihr
nicht.«
»Ich werde es
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