Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
PROLOG
7. August 1956
Foch-les-Eaux, Villette
Er wußte sofort, daß er in Schwierigkeiten war, als er die Augen aufschlug und von einem Sonnenstrahl, der durch die schmutzige Scheibe hereinfiel, geblendet wurde. Wenn die Sonne so hoch stand, daß sie direkt auf sein Bett schien, hätte er schon auf dem Weg zur Arbeit sein, ja, am besten schon im Umkleideraum sitzen und sich die Stiefel schnüren müssen.
Er rollte aus dem Bett und riß die Kleider, die auf dem Boden lagen, an sich, die Hose und das verschlissene Hemd, das schlechteste von den dreien, die er besaß. Er zog sich in Rekordgeschwindigkeit an, zog sich mit einer Hand das Hemd über den Kopf, während er gleichzeitig mit der anderen die Hose zuknöpfte, und stürzte durch die Tür hinaus.
Er hielt dennoch auf dem Stein, der an der Haustür als Treppe diente, einen Augenblick inne, nicht um in der klaren Morgenluft die Aussicht über das Tal zu genießen, sondern um mit blinzelnden Augen auf die Uhr am Kirchturm unten im Dorf zu schauen. Fünf nach halb sechs – ja, jetzt war es wirklich kritisch!
Die kleine Annunziata Paolini, das älteste der drei Kinder der Familie Paolini, war allein draußen vor der Baracke auf dem Hof und versuchte, mit einem viel zu kurzen Stück Seil Springseil zu springen.
– Ti sei svegliato in ritardo? fragte sie und sah durch die Gardine dunkler Haare, die ihr übers Gesicht hing, noch ohne die Haarspange, mit der ihre Mutter Giovanna es so genau nahm, mitleidig zu ihm auf.
– Sprich französisch, Nunzi, sagte er und schwang das Bein über die Fahrradstange, ja, klar habe ich verschlafen!
Die Straße zum Dorf fiel so steil ab, daß er kaum zu treten brauchte, um Fahrt aufzunehmen, aber er tat es trotzdem, fuhr im Stehen und trat den ganzen Weg hinunter wie rasend, bis er beim Café angekommen war, wo er vor dem Eingang scharf bremste und an die Glasscheibe klopfte.
Suzanne machte sofort auf. Obwohl er es so eilig hatte, konnte er es nicht lassen, zu ihrem Körper zu schielen. Ihre Taille war wespenschmal und der Bauch unter der eng zugebundenen Schürze flach. Sie hatte sich vielleicht geirrt, hoffen konnte man ja immer.
– Mein Gott, bist du spät dran, sagte sie, als sie ihm das Paket mit belegten Broten und die Flasche mit Milchkaffee reichte.
– Ich habe verschlafen, das siehst du doch, sagte er, kannst du mir noch ein Stück Brot geben, ich muß unterwegs frühstücken.
Sie verschwand ins Café, und er zündete sich schnell eine Zigarette an, die er aus dem Mund nahm, als Suzanne mit einem belegten Brot zurückkam. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als er unter der knusprigen Kruste des Baguette die Wurstscheiben herausragen sah, und er biß ein paar große Happen ab. Mit dem Brot in der linken Hand ergriff er mit der rechten, in der er zwischen Zeige- und Mittelfinger die Zigartte hielt, den Lenker und wollte losradeln.
– Warte, sagte Suzanne, ich habe deine Wäsche hier!
Sie brachte ein großes Paket, eingeschlagen in braunes Papier, und legte es auf den Proviant im Fahrradkorb. Er lächelte ihr pflichtschuldigst zu und radelte auf der staubigen Landstraße weiter aus dem Dorf hinaus.
Er hatte sich am Tag zuvor mit seinem Onkel gestritten, deshalb hatte ihn der schmollende Alte nicht geweckt. Später sollte er oft daran denken, wie ein trivialer Streit um eine Fahrradpumpe sein ganzes Leben entschieden hatte, und sich fragen, ob es nur der blinde Zufall war, der über Leben und Tod entschied, oder ob es eine höhere Macht gab, die die Fäden zog und entschied, wie die menschlichen Figuren auf dem Spielbrett des Lebens bewegt wurden. Die Frage eines Kindes, eine Begegnung an einer Bartheke, ein verspäteter Zug – man wußte immer erst danach, daß man vor einer entscheidenden Wegscheide im Leben gestanden hatte.
Und nichts ließ ihn ahnen, daß er sich einer solchen Wegscheide näherte, als er auf seinem rostigen Fahrrad durch die Gittertür hineinspurtete. Er warf das Fahrrad hin, lief die Treppe hinauf, rannte an den Duschen vorbei in den Umkleideraum, wo er in rasender Geschwindigkeit den Blaumann anzog und seine eigenen Kleider hochzog, so daß sie mit denen der anderen oben an der Decke hingen, wo Hemden und Hosen und Jacken baumelten, makaber wie die Körper nach einer Massenhinrichtung.
Mit dem Helm im Nacken rannte er weiter zur Lampenausgabe, lieferte seine Personalmarke ab und bekam von der hochnäsigen Ginette Marceau, die mißbilligend schnaubte, als sie seine Marke an den Haken
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