Die Tore der Welt
ein dankbares Lächeln zu. Er vermutete, dass sie Roley ermutigt hatte, ihm das
Pferd zu schenken, weil sie wusste, was es ihm bedeuten würde. Als er Caris
anblickte, sah er, dass auch sie die Bedeutung des Geschenkes begriff; trotzdem
wurde kein Wort gesprochen.
In der großen
Kirche herrschte eine freudige Stimmung. Vater Michael war kein mitreißender
Prediger und kaum zu verstehen, als er die Messgebete sprach. Die Nonnen jedoch
sangen so schön wie immer, und eine frohe Sonne schien durch die tiefen,
dunklen Farben der Buntglasfenster.
Danach gingen sie
in der frischen Herbstluft auf dem Markt umher. Caris hielt Merthins Arm,
Philippa ging auf seiner anderen Seite. Die beiden Jungen liefen voraus,
während Philippas Leibwächter und Hofdame folgten. Das Geschäft ging gut, das
sah Merthin. Die Kingsbridger Handwerker und Händler waren schon dabei, ihr Vermögen
zurück zu gewinnen. Von diesem Ausbruch des großen Sterbens würde sich die
Stadt schneller erholen als vom letzten.
Die älteren
Ratsmitglieder gingen umher und prüften Maße und Gewichte. Das Gewicht eines
Wollsacks, die Breite einer Stoffbahn, die Größe eines Scheffels und so weiter
waren vorgeschrieben, damit die Leute wussten, was sie kauften. Merthin
ermunterte die Räte, diese Prüfungen demonstrativ durchzuführen, damit die Käufer
sahen, wie sorgfältig die Stadt ihre Händler beaufsichtigte. Wurde jemand
ernsthaft des Betruges verdächtigt, prüfte man ihn freilich unauffällig, und
war er schuldig, entfernte man ihn in aller Stille.
Philippas Söhne
liefen aufgeregt von einem Stand zum nächsten. Merthin beobachtete Roley und
fragte Philippa leise: »Jetzt, da Ralph tot ist — besteht noch ein Grund,
weshalb Roley die Wahrheit nicht erfahren sollte?«
Sie sah
nachdenklich drein. »Ich wünschte, ich könnte sie ihm sagen — aber wäre das zu
seinem Besten oder zu unserem? Zehn Jahre lang hat er geglaubt, Ralph wäre sein
Vater. Vor zwei Monaten hat er an Ralphs Grab geweint. Es wäre ein
entsetzlicher Schock für ihn, wenn er nun erfährt, dass er der Sohn eines
anderen ist.«
Sie sprachen mit
gedämpfter Stimme, aber Caris hörte sie und sagte: »Ich stimme Philippa zu. Du
musst an das Kind denken, nicht an dich selbst.«
Merthin erkannte
die Weisheit in ihren Worten. Für ihn trübte es den glücklichen Tag, aber nur
ein wenig.
»Es gibt noch einen
anderen Grund«, fuhr Philippa fort. »Gregory Longfellow kam letzte Woche zu
mir. Der König möchte Gerry zum Grafen von Shiring ernennen.«
»Im Alter von
dreizehn Jahren?«, fragte Merthin.
»Anders als bei den
Baronen wird der Titel eines Grafen immer vererbt, nachdem er einmal verliehen
wurde. Für die nächsten drei Jahre müsste ich so oder so die Grafschaft
verwalten.«
»Wie du es ständig
getan hast, während Ralph gegen die Franzosen kämpfte. Du bist sicher
erleichtert, dass der König nicht von dir verlangt, noch einmal zu heiraten.«
Sie verzog das
Gesicht. »Dazu bin ich zu alt.«
»Also ist Roley der
Zweite in der Erbfolge der Grafschaft — vorausgesetzt, wir wahren unser
Geheimnis.« Sollte Gerry etwas zustoßen, dachte Merthin, wird mein Sohn der
Graf von Shiring. Man stelle es sich vor.
»Roley wäre ein
guter Lehnsherr«, sagte Philippa. »Er ist klug und hat einen recht starken Willen,
aber er ist nicht grausam wie Ralph.«
Ralphs niedere
Gesinnung war schon in einem zarten Alter zutage getreten: Er war zehn gewesen,
genauso alt wie Roley, als er Gwendas Hündchen erschoss. »Aber vielleicht möchte
Roley lieber etwas anderes werden.« Er blickte wieder auf das geschnitzte Holzpferd.
Philippa lächelte.
Sie lächelte nicht oft, aber wenn, dann blendete ihr Lächeln. Sie ist noch
immer eine schöne Frau, dachte Merthin. Sie sagte: »Füg dich, und sei stolz auf
ihn.«
Merthin erinnerte
sich, wie stolz sein Vater gewesen war, als Ralph zum Grafen erhoben wurde. Er
sah jedoch deutlich, dass er selbst nie so denken würde. Auf Roley würde er
stolz sein, ganz gleich, was er tat, solange er es gut machte. Vielleicht wurde
der Junge ein Steinmetz und fertigte Bildnisse von Heiligen und Engeln an. Vielleicht
wurde er ein kluger, gnädiger Edelmann. Oder er tat etwas ganz anderes, etwas,
womit seine Eltern nie gerechnet hätten.
Merthin lud
Philippa und die Jungen zum Mittagessen ein, und sie verließen das Gelände der
Kathedrale. Gegen den Strom beladener Karren, die zum Markt kamen,
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