Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
böser Wolf im Hause reicht uns. Saskia hat Angst vor dem Wolf.«
Sören fing sich als Erster wieder. »Warum lesen Sie Ihrem Kind dann ausgerechnet das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf vor?«
Ulla Andresen sah nur kurz auf. »Haben Sie noch nie gehört, dass Kinder mit einem Märchen ihre realen Ängste verarbeiten?«
Sören zupfte seinen Chef am Ärmel, und Erik verstand. Es ging ihm ebenso wie seinem Assistenten. Er wollte hier raus! So schnell wie möglich.
Erik zerteilte die Perlenschnüre und legte seine Visitenkarte auf den Tresen. »Rufen Sie mich bitte an, wenn Ihnen noch was einfällt.«
Andresen antwortete nicht, sondern folgte Erik und Sören, um die Ladentür hinter ihnen zu schließen. Als Erik sich an der Autotür noch einmal umdrehte, sah er, dass Wolf Andresen die große rote Hummer-Attrappe, die sein Schaufenster zierte, von links nach rechts schob und wieder zurück.
»Zwangshandlungen«, sagte Sören. »Dieses Hin- und Herrücken, das Ausrichten, das Kontrollieren … der Kerl hat ’ne Macke. Er leidet eindeutig unter Zwangsstörungen.«
Erik setzte sich hinters Steuer. »Zwangsstörungen sind immer Angststörungen.« Er starrte eine Weile durch die Windschutzscheibe, ehe er den Zündschlüssel drehte. »Glauben Sie, dass das Kind Angst vor seinem Vater hat, Sören?«
Sein Assistent grinste. »Nicht nur vor dem Vater, auch vor Ihnen. So ein Pech aber auch, dass Sie ebenfalls Wolf heißen.«
Im Polizeirevier am Kirchenweg wurde zum zweiten Mal Kaffee gekocht, als Erik und Sören zurückkamen. Der angenehme Duft war auf dem besten Wege, den Geruch der Stempelkissen, Uniformjacken, frischen Kopien und muffigen Aktenordner zu besiegen. Natürlich wurde in der Revierstube häufig Kaffee gekocht, aber diesmal zwang das Gluckern der Kaffeemaschine nicht nur den typischen Kontormief in die Knie, sondern sogar die Trostlosigkeit der Aktenschränke, das Elend der vernachlässigten Topfpflanzen und sogar das Grau der Vorhänge, die lange nicht mehr gewaschen worden waren. Erik versuchte seinen Ärger zu unterdrücken. Wo Mamma Carlotta auftauchte, entstand im Nu das lärmende Hin und Her einer Trattoria.
Sie steuerte gerade auf den Höhepunkt einer Erzählung zu, in der es um eine angeheiratete Cousine ging, der nach einer Kinderkrankheit der Geruchssinn abhanden gekommen war. Sie wollte eine Torte mit Mandelblättern verzieren und griff versehentlich zu den blättrig geschnittenen Knoblauchzehen, die für das Tomatenpesto bestimmt waren, das an diesem Tag gekocht werden sollte. »Die Gesichter der Kaffeegäste hätten Sie sehen sollen!«
Polizeimeister Enno Mierendorf und Obermeister Rudi Engdahl amüsierten sich königlich. Als das Gelächter schlagartig verstummte, sah Mamma Carlotta zur Tür. »Ah, Enrico! Ein wirklich schönes Büro hast du! Und so nette Kollegen! Ich habe ihnen gerade versprochen, dir demnächst selbst eingelegte Antipasti mitzugeben.«
Erik antwortete nicht darauf. Er sah zur Uhr, dann in die grinsenden Gesichter seiner beiden Mitarbeiter und meinte: »Soll ich jemanden bitten, dich nach Wenningstedt zu fahren? Die Kinder kommen bald aus der Schule.«
Aber wenn er geglaubt hatte, Mamma Carlotta fiele auf dieses durchsichtige Manöver herein, dann hatte er sich getäuscht. Sie machte es genauso wie Erik und reagierte statt zu antworten mit einer Gegenfrage: »Hattest du Erfolg bei diesem …« Sie ruderte mit den Armen in der Luft herum, ehe ihr das Wort einfiel: »Fischhändler?«
Mamma Carlotta ließ sich gemütlich wieder zurücksinken, als Sören seinen beiden Kollegen zu schildern begann, was man bei Fisch-Andresen recherchiert hatte. Und in der Hoffnung, dass man ihre Anwesenheit in den nächsten Minuten vollends vergessen könnte, verhielt sie sich mucksmäuschenstill und lauschte Sörens Bericht ohne einen einzigen Ausruf der Verwunderung. Eine unglaubliche Leistung für Carlotta Capella! Es gelang ihr sogar zu schweigen, als Sören von Wolf Andresens Nervosität erzählte und von seiner Gewohnheit, alle Gegenstände um sich herum so exakt anzuordnen wie ein Chirurg seine Skalpelle.
»Ein Verrückter«, behauptete Sören. »Wie kann er behaupten, die schwierige Geschäftslage zwänge ihn dazu, sich auf Christa Kerns unverschämte Forderungen einzulassen! Wenn die Kern ihn zweimal zwischen Kampen und Westerland hin- und herfahren lässt, dann verdient er nichts mehr an diesem Bring-Service. Die Verdienstspanne wird geschluckt durch die Mehrkosten.
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