Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
gestillt sein sollte.
»Böser Wolf«, flüsterte das Kind.
»Ja, der böse Wolf ist überall«, entgegnete die Mutter. »Auch bei den sieben Geißlein. Willst du das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein hören?«
Saskia nickte und schob dann ihren Daumen in den Mund. Sie starrte Mamma Carlotta an, während ihre Mutter zu lesen begann. »Es war einmal eine alte Geiß …«
Hinter den Perlenschnüren richtete Wolf Andresen freundlichste Grüße an den Gatten seiner Kundin aus. »Und beehren Sie mich bald wieder! Dann wird auch Aal in Gelee im Angebot sein.«
Die Glocke schepperte.
»Einen Bratrollmops, bitte«, hörte Mamma Carlotta einen Kunden sagen.
Sie hatte das Gefühl, dass ihr Aufenthalt in dieser Stube länger dauern könnte, denn im Laden hatte Wolf Andresen genug damit zu tun, einen Matjessalat zu verteidigen, dem der Kunde das Attribut »hausgemacht« absprechen wollte. Seine Frau las währenddessen dem Kind vor: »… da ging der Wolf fort zu einem Krämer und kaufte sich ein großes Stück Kreide …«
Ulla Andresen war eine hübsche Frau, mit einer schlanken Figur, einem weichen, runden Gesicht und ebenso runden Augen. Obwohl Sie in diesem düsteren Hinterzimmer eingeschlossen war, hatte sie sich Mühe mit ihrer Kleidung gegeben, die gepflegt und modisch war, hatte die langen Haare sorgfältig am Hinterkopf aufgesteckt und versucht, der Blässe ihres Gesichtes mit Puderrouge beizukommen.
»… wir machen nicht auf, unsere Mutter hat keinen schwarzen Fuß wie du …«
Der Kunde hatte sich gegen den Matjessalat entschieden und war gegangen. Andresen betrat den Raum. »Geht’s Ihnen besser?«, fragte er Mamma Carlotta.
»Ja, danke.« Sie erhob sich und trank das Glas im Stehen aus. Andresen nahm es ihr ab und stellte es auf die Spüle.
»Was hat die Kleine?«, fragte Mamma Carlotta, während sie sich scheinheilig in Richtung Perlenschnurvorhang bewegte.
»Fallotsche Tetralogie«, gab Andresen ausdruckslos zurück. »Ein angeborener Herzfehler.«
»Austherapiert?«, fragte Mamma Carlotta, die stolz auf ihre neue Vokabel war.
Andresen zuckte zusammen und starrte seine Frau an. Die erhob sich, ohne auf das Weinen des Kindes zu achten. »Gewissermaßen«, antwortete sie. »Saskia ist operiert worden, aber leider ohne den gewünschten Erfolg. Daher haben die Ärzte sie tatsächlich austherapiert genannt. Doch es gibt noch eine Möglichkeit, Saskia zu helfen. Eine Operation in den USA . Aber …«
Die Ladenglocke schepperte wieder, eine männliche Stimme rief: »Ich bin’s!«
»… aber die zahlt keine Krankenkasse, und die Zeit drängt«, ergänzte Ulla und blickte zu dem Perlenschnurvorhang, bis er sich teilte und ein junger Mann erschien. »Und dieser grässliche Laden wirft ja nichts ab.« Sie lächelte leicht. »Moin, Björn.«
Der junge Mann steckte in einem blauen Overall mit der Aufschrift Fisch-Andresen . Er trug einen Schwall frischer Nordseeluft in das muffige Hinterzimmer. »Gibt’s noch eine Fuhre, Chef?«, fragte er und sah dabei nicht Wolf Andresen, sondern Ulla an.
»Nein, Sie können Mittagspause machen«, entgegnete Andresen, beugte sich über das Bett und machte Anstalten, Saskia herauszuheben.
Der schrille Schrei, den die Kleine ausstieß, erschreckte ihn ebenso wie Mamma Carlotta. »Wolf! Wolf! Böser Wolf!« Saskias Stimme schnappte über, ihr Körper bäumte sich auf, wurde steif, sie rang nach Luft, ihre Finger griffen ins Leere, immer wieder ins Leere, griffen dann schwächer, immer langsamer, so wie ihr Atem schleppender ging, schließlich nur noch in schweren Stößen aus dem Brustkorb gepresst wurde. »Böser Wolf!«
Es waren vielleicht vier oder fünf Sekunden, in denen die Welt aufhörte, sich zu drehen – dann setzte Saskias Atem wieder ein. Wolf Andresen legte seine Tochter zurück ins Bett. Ulla schob ihn wortlos zur Seite, der Auslieferer, der mit Saskia nach Luft gerungen hatte, atmete geräuschvoll aus.
Mamma Carlotta drückte ihre Handtasche vor die Brust und drängte sich mit einem flüchtigen »Vielen Dank für Ihre Hilfe« durch den Perlenschnurvorhang. Er raschelte hinter ihr her, die Glocke schepperte ihr nach, die Tür fiel klirrend ins Schloss, trotzdem hatte sie, als sie auf der Straße stand, das Gefühl, einen Ort verlassen zu haben, in dem das Leben lautlos zerrann.
Mamma Carlotta hastete zum Bahnhof zurück, wo der Bus nach Wenningstedt abfuhr. Sie lief, so schnell sie konnte, um wegzukommen von diesem finsteren Fischhändler
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