Die Tote am Watt
verliebt und einen italienischen Weinbauern geheiratet hatte. Sie war glücklich, wenn sie Deutsch reden konnte, und Mamma Carlotta war glücklich, wenn sie Deutsch lernen durfte. Je weiter sie mit ihren Fähigkeiten fortschritt, umso häufiger kam die Nachbarin zu Besuch, um mit Mamma Carlotta in ihrer Muttersprache zu plaudern.
Dann war Carolin herangewachsen, die schon früh beschloss, Lehrerin zu werden, und ihre Großmutter als erste Schülerin entdeckte. Während der Ferien paukte sie unermüdlich Vokabeln mit der Nonna, fragte sie ab, ließ sie kleine Tests schreiben, versorgte sie mit Büchern und vergewisserte sich zu Beginn der nächsten Ferien, dass die Nonna alle Aufgaben, die man ihr zurückgelassen hatte, sorgfältig gelöst hatte. Und Mamma Carlotta hatte ihre Sprachkenntnisse vertieft, indem sie während der vielen eintönigen Stunden am Bett ihres Mannes mit dem geöffneten Fenster, den Blumentöpfen davor und den vorüberziehenden Wolken deutsch geredet hatte. Auf diese Weise hatte sie es zu erstaunlicher sprachlicher Gewandtheit gebracht.
Mamma Carlotta sah so aus, als suchte sie nach einem Griff, um das Flugzeugfenster zu öffnen. Ihre Begeisterung über alles, was sie von oben erspähen konnte, war nun so groß, dass sie sämtliche Passagiere und Flugbegleiter an ihrer Freude teilhaben ließ. Auch die, die der Landebahn nicht gern entgegensahen, wurden über jede Phase der Annäherung informiert.
»Madonna! Wir werden mitten im Hafenbecken landen! Oder auf einem der Hochhäuser? Per l’amor di Dio, mitten im Wald! No, no … auf dem Flugplatz! Ich sehe ihn! Da! Da ist er! Tatsächlich, dieser Pilot ist genial! Er landet genau … veramente genau auf dieser langen, langen Straße.«
Mamma Carlottas Begeisterung bekam allerdings einen gewaltigen Schock, als ihr beim Verlassen des Flugzeugs der kalte Wind ins Gesicht blies. »Madonna! Und ich dachte, der Winter wäre vorbei!«
Erik Wolf fuhr nicht gern nach Hamburg. Wie allen Inselbewohnern waren ihm Grenzen vertrauter als anderen Menschen. Und Sylt war ihm derart vertraut, dass alles andere ihm fremd war. Erst recht eine große Stadt wie Hamburg. Und Erik Wolf liebte das Vertraute zu sehr, um sich woanders wohlzufühlen als auf Sylt.
Er war ein kantiger Mann, groß, mit breiten Schultern. Alles an ihm war breit, der Körper, der Kopf, die Stirn, der Mund. Sein Schnauzer betonte das Breite noch, ebenso wie die Breitcordhosen, die er mit Vorliebe trug. Seine Frau hatte ihn sogar den Mann mit dem breiten Herzen genannt. Und obwohl es ihm nicht gefiel, hatte er gelächelt, wenn sie ihn so nannte. Aber da er wusste, dass sie nie einen anderen Mann wollte als den mit dem breiten Herzen, hatte es ihm schließlich auch gefallen.
Vom Rücksitz drang das Pochen der Musik aus Felix’ Kopfhörer. Manchmal stimmte der Rhythmus mit dem des Scheibenwischers überein, dann erschienen Erik die Geräusche erträglicher. Er liebte nun einmal die Stille, das leise Atmen des Windes bei Flaute und auch sein heftiges Schnaufen. Sogar ein Sturm war für ihn Teil dieser Stille, die das Leben auf einer Insel von dem auf dem Festland unterschied.
»Ich bin jetzt schon froh, wenn wir wieder zu Hause sind«, sagte er.
Die sechzehnjährige Carolin, die schweigend neben ihm hockte, lächelte zustimmend. Carolin war genau wie ihr Vater. Sie dachte wie er, empfand wie er, war genauso schweigsam wie er.
Ihr blasses Gesicht war ihrer Mutter stets ein Anlass zur Sorge gewesen. Fast jeden Morgen hatte sie die Wangen ihrer Tochter gerieben, damit sie sich endlich rosig färbten. Zum Glück hatte Carolin auf den Beistand ihres Vaters bauen können, als es kurz nach ihrem zwölften Geburtstag darum ging, dort mit ein wenig Rouge nachzuhelfen, wo die Natur versagt hatte. Und mit einer Dauerwelle dort, wo sich absolut kein Löckchen kringeln wollte. Ungezählte Male an jedem Tag hatte Lucia ihrer Tochter die Haare aus dem Gummiband gezupft, das sie im Nacken zusammenhielt, und genauso oft hatte Carolin sie wieder zusammengerafft und geduldig alles verweigert, was aus ihr eine verlockende Ragazza machen sollte.
Erik wusste, dass Carolin ihre Mutter nicht nur geliebt, sondern auch gefürchtet hatte. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich versteckt, wenn das Temperament wieder einmal mit Lucia durchging, und war erst wieder hervorgekommen, wenn ihre Mutter nicht mehr tobte, schrie und ihre Muttersprache benutzte wie ein Maschinengewehr.
Felix dagegen, der das Ebenbild seiner
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