Die Tote am Watt
Vokabeln gab. Es mussten italienische her, um mitzuteilen, wie groß ihr Erschrecken über den Verkehr war, der so klaren Gesetzen folgte, dass er ihr viel mehr Angst machte als das Fahrzeuggewimmel in Rom. Dort regierten die Gesetze des Zufalls, die in einem Italiener weit mehr Sicherheit erzeugten als genaue Vorschriften, die nur funktionieren konnten, wenn man sich mustergültig daran hielt.
Zum Glück beruhigte sie sich, als der Verkehr auf der Autobahn übersichtlicher wurde. Und auf der Höhe von Kaltenkirchen fand sie wieder zu ihrem deutschen Wortschatz zurück.
Die A7 war nur schwach befahren, und Erik fuhr langsam, um seine Schwiegermutter zu schonen. Er gehörte ohnehin nicht zu denen, die sich am Tempo berauschten, aber wenn er jetzt allein gewesen wäre, hätte er das Gaspedal sicherlich tiefer heruntergedrückt. Der Anruf seines Assistenten ging ihm im Kopf herum. Ein Mord auf der Insel! Nicht auszudenken, welche Fehler Sören in seiner Unerfahrenheit machen konnte!
Bei Flensburg bog er gen Westen ab auf die Bundesstraße, die nach Niebüll führte, wo der Autozug auf sie wartete. Die Fahrt wurde immer angenehmer, denn Mamma Carlotta war nun gelegentlich sogar sprachlos vor Staunen. Die karge Landschaft, die weiten Flächen, die bis zum Horizont reichten, die stoischen Schafherden und über allem der Wind, der die wenigen Bäume geneigt hatte und die vielen Windräder drehte. So etwas hatte Mamma Carlotta noch nie gesehen. Sie schien zu spüren, dass die Stille der Landschaft etwas mit dem Schweigen der Menschen zu tun hatte, die hier lebten. Mamma Carlotta wurde ruhiger, sprach langsamer, ihre Gesten wurden sparsamer.
Ob sie bemerkte, dass Eriks Schweigen kurz vor Niebüll eisig wurde? Dass Carolin die Augen schloss und sich noch tiefer in ihren Sitz drückte? Dass Felix in seinem Rucksack herumsuchte, ohne den Blick zu heben? Ja, Mamma Carlotta schien die Kälte zu spüren, die durch das Auto rieselte, aber sie fragte nicht. Und zum Glück sah sie auch das kleine Holzkreuz nicht, das in einer Kurve stand.
Erik hatte sich oft gewünscht, seine Kollegen hätten eine andere Form gefunden, das Andenken an Lucia zu bewahren. Dieses Kreuz zwang ihn immer wieder, an dieser Stelle in die Baumkronen zu blicken und sich zu fragen, ob sie das Letzte gewesen waren, was Lucia gesehen hatte. Aber er wusste, dass die Kollegen des Polizeireviers Westerland es gut gemeint hatten, als sie auf diese Weise dafür sorgten, dass der Name seiner Frau nicht in Vergessenheit geraten konnte. Und deswegen ertrug Erik das Kreuz, den zersplitterten Baumstumpf dahinter und die frischen, jungen Zweige, die aus den Wunden des Baums wuchsen.
Die Niebüller Abfertigungsanlage mit der Verladerampe für die Autozüge nach Sylt musste für eine Italienerin ein Schock sein. Wer sich auf Sylt freute, genoss den Wind, der ins Auto fuhr, kaum dass sich die Türen geöffnet hatten, und fror aus Prinzip nicht. Aber wer nicht wusste, was ihn erwartete, öffnete nur einmal kurz das Fenster und mochte sich mit dem Gedanken tragen, auf der Stelle umzukehren und nach einem behaglicheren, windstillen Ort Ausschau zu halten. Mamma Carlottas Gesicht war abzulesen, zu welcher Sorte sie gehörte. Sie schickte einen sorgenvollen Blick gen Himmel.
Erik öffnete noch einmal die Fahrertür, steckte den Kopf ins Wageninnere und zählte ein paar beruhigende Details des Sylt-Shuttles auf, der Tag für Tag Niebüll verließ und Tag für Tag sicher in Westerland ankam. »Ob bei Hoch- oder Niedrigwasser, er fährt immer. Selbst bei Frost oder Sturm.« Erik fand, dass nun auch einer Italienerin jede Angst genommen sein musste. »Du wirst es gleich sehen, Mamma Carlotta! In einer Viertelstunde geht es los.«
Er drückte die Tür wieder ins Schloss und entfernte sich ein paar Schritte vom Auto. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte Sörens Nummer. »Seid ihr schon am Tatort?«
»Ja, schon seit einer Stunde. Eine böse Sache, Chef.«
»Männliche oder weibliche Leiche?«
»Weiblich.«
»Eine Einheimische oder eine Touristin?«
»Von beidem ein bisschen. Sie heißt Christa Kern, kaufte sich vor Jahren zusammen mit ihrem Mann in Kampen ein Ferienhaus. Kurz darauf starb ihr Mann, und sie zog ganz hierher.«
»Christa Kern? Nie gehört.«
»Ihre Putzfrau sagt, sie kannte nicht viele Leute auf Sylt. Sie lebte sehr zurückgezogen.«
Erik warf einen Blick zu seinem Auto, wo Felix auf seine Großmutter einredete, Mamma Carlotta mit großen Gesten
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