Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
allerdings aus Vaters Zimmer holen müssen. Mit angehaltenem Atem drückte Agnes die Klinke hinunter. Vater schnarchte. Seine Schlüssel hingen neben seinem Bett. Sie klimperten, als Agnes sie vom Haken nahm … Das Schnarchen verstummte. Sie stand regungslos da undatmete erst auf, als ihr Vater sich auf die Seite drehte und weiterschlief. Leise machte sie die Tür hinter sich zu und schloss die mit Blumen verzierte Truhe auf. Neben Kaufverträgen und Vereinbarungen lagen Münzen von ganz unterschiedlichem Wert. Auf einem der Papiere las sie »Mitgift« und staunte über die Höhe der Summe. Dass Vater tatsächlich bereit war, so viel Geld zu bezahlen, um sie loszuwerden. Sie hatte das Gefühl, ihn gar nicht mehr zu kennen. Als ob er ein anderer geworden wäre. Agnes nahm sich etwas von dem Geld und versuchte einzuschätzen, wie viel sie brauchen würde.
Wie soll ich bloß allein zurechtkommen?, dachte sie verzweifelt. Doch in der Erinnerung hörte sie Großmutter sagen:
Met jouw komt het altijd goed mijn kind. Du klarar dig alltid, mitt barn.
Als die Sonne an diesem Morgen aufging und die Mägde auf Gut Näverkärr zum Melken gingen, befand sich Agnes bereits ein Stück südlich von Bohus-Malmö. Sie segelten an den Brandschären, Gäven und Bonden vorbei. Ein frischer Wind trieb das Schiff immer weiter fort von der Halbinsel Härnäs, immer weiter weg von ihrem einstigen Zuhause.
Sie musste eine Weile geschlafen haben, denn als sie erwachte, betrachtete sie verwundert ihre Hose und die Stiefel. Sie hörte das Wasser gluckern und wusste wieder, wo sie war. Wie hatte Vater wohl reagiert? Hatte er begriffen, dass sie wirklich fort war, oder glaubte er vielleicht, dass sie zurückkehren würde, sobald sie Hunger bekam? Mit der Zeit würde ihm klar werden, dass Agne Sundberg und seine Tochter ein und dieselbe Person waren. Und was würde der Pastor sagen? Armer Vater.
Ihr kurzes Haar blitzte unter der Mütze hervor.
Das Schiff legte sich knarrend auf die Seite, aber die gut vertäute Ladung rührte sich nicht von der Stelle.Agnes nahm Brot und Käse aus ihrer Tasche und begann zu essen.
»Na, Agne Sundberg«, sagte der Kapitän. »Das Fräulein auf Näverkärr hat anscheinend einen Narren an Ihnen gefressen, wenn sie Ihnen schon eine Reise nach Marstrand organisiert, anstatt dass Sie selbst zu mir kommen und fragen.«
»Fräulein Agnes hat ein gutes Herz.« Agnes antwortete mit so tiefer Stimme wie möglich, achtete auf jede Bewegung und wählte ihre Worte mit Bedacht. Sie versuchte, so zu sprechen wie ihr Bruder Nils, und rief sich ins Gedächtnis, wie er gestikuliert und sich bewegt hatte.
»Ich habe noch nie einen Fassmacher mit so mickrigen Händen gesehen.« Der Mann musterte sie von Kopf bis Fuß. »Was ist der Grund eurer Reise? Sie lassen das Fräulein Agnes doch nicht in Schwierigkeiten zurück?«
»Um das Fräulein auf Näverkärr brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Und der Grund meiner Reise geht nur mich etwas an.«
»Käpt’n!«, schallte es aus dem Ausguck. »Die Strömung treibt uns zu nah an Härmanö heran.«
Agnes blickte auf. Die Klippen stellten keine Gefahr dar, dachte sie. Das offene Boot, das plötzlich mit hoher Geschwindigkeit auftauchte, jedoch schon.
»Die Piraten von Strömstierna.«
Agnes sah ihn verwundert an.
»Was hat Strömstierna mit Piraten zu tun?«, fragte sie.
»Was glauben Sie denn, wo das Geld auf Gut Vese herkommt? Für einen Fassmacher kennen Sie sich mit den Zuständen hier in der Gegend aber schlecht aus.«
Das Boot kam näher. Agnes überlegte fieberhaft. Vater hatte zwar erwähnt, dass sie einige Ladungen verloren hatten, aber Agnes hatte dies immer den schlechten Wetterbedingungen zugeschrieben. Ein einziges Mal war ihr zu Ohren gekommen, dass die Besatzung überfallen unddie Ladung geraubt worden war, aber das war doch unten auf der Höhe von England und nicht hier passiert. Oder etwa doch?
»Wir entkommen ihnen nicht.« Der Kapitän gab den Männern an Bord zu verstehen, dass sie sich für den Fall, dass es Probleme gäbe, bereit machen sollten. Agnes berührte ihren Hals, wo normalerweise das Kreuz hing, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie die Kette abgenommen hatte. Sie griff in die Hosentasche und strich mit dem Finger über das silberne Schmuckstück.
»Wissen sie denn, dass wir Waren an Bord haben, die dem Gutsbesitzer von Näverkärr gehören?«, fragte Agnes besorgt.
»Natürlich ist ihnen das bekannt. Deshalb erwarten sie uns ja
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