Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
mit großen Schritten.
Rebecka überblickte die Umgebung. Sie saß auf einem der höchsten Punkte Marstrands, und die Aussicht war überwältigend. Koön im Osten, ein Stück weiter südlich der Albtrektsunds Kanal, ein offener Horizont im Westen, und im Norden auf der Insel Hamneskär erstrahlte rot der frisch gestrichene Leuchtturm Pater Noster.
»Du kommst besser auch, Rebecka.«
Mats kam zurückgerannt. Der Schreck war ihm ins Gesicht geschrieben. Rebecka stellte die beiden Becher ins Gras und stand hastig auf.
Åkerström, Trollhättan, Spätsommer 1958
Die geschlossene Tür
Ein magerer, kleiner Junge mit ungewaschenem Haar und zerrissenen Kleidern saß auf der untersten Stufe der Kellertreppe. Die geschlossene Tür hinter sich beachtete er gar nicht mehr. Er hatte schon lange die Hoffnung aufgegeben, dass sie sich eines Tages öffnen würde. Er starrte ins Leere oder vielleicht auf die dicke Mauer.
Es roch muffig, und durch die schmutzigen Kellerfenster drang nur gedämpftes Tageslicht. Außer an den Stellen, wo der Wind hereinblies, waren die Fensterrahmen von einer dicken Staubschicht bedeckt. Von der Decke hing eine nackte Glühlampe.
Oben hörte er seine Schwestern zanken und lachen. Fröhliche Füße rannten vom Hausflur in die Küche. An den Schritten hörte er, wer es war und wo sich die Personen befanden. Es war eine andere Welt. Eine Welt aus Licht und klaren Farben. Wo er sich befand, war fast alles grau und braun. Vor drei Tagen war er, ohne es zu wissen, sechs Jahre alt geworden. Zwei dieser Jahre hatte er im Keller zugebracht.
Die alte Frau Wilson besaß einen der gepflegtesten Gärten auf Marstrandsön. Er lag hinter dem weißgestrichenen Gartenzaun an der Kreuzung von Hospitalsgatan und Kyrkogatan. Als passionierte Gartenliebhaberin und ehemaligeBesitzerin einer angesehenen Gärtnerei in Southampton an der Südküste Englands, wo sie und ihr verschiedener Gatte achtundzwanzig Jahre gelebt hatten, legte sie Wert darauf, immer etwas zu bieten zu haben, das Passanten zum Stehenbleiben und Staunen brachte. Im Frühling stahl der Kirschbaum mit seiner prächtigen rosa Blüte allem anderen die Schau, im Sommer waren es die Pfingstrosen und die atemberaubenden Stockrosen an der Hauswand. Im Spätsommer und Herbst verströmten die Rosen ihren bezaubernden Duft über den Gartenzaun und ließen die Leute auf der Straße behaglich seufzen. Das bereits im Jahre 1701 erbaute Haus gehörte zu den ältesten und kleinsten auf der Insel, doch der Garten war dafür umso größer. Im Volksmund wurde er die »Perle« genannt, und auch in den Broschüren der Touristeninformation war er abgebildet.
Am anderen Ende des Gartens standen zwei Stühle im Schatten eines riesigen Apfelbaums. Die Nachbarn im Haus hinter dem von Frau Wilson hatten lange versucht, den Apfelbaum loszuwerden, weil er ihnen einen Großteil ihres Meerblicks nahm. Sie hatten mit der alten Dame darüber gesprochen, doch die Antwort lautete: »Ein Baum braucht fünfzig Jahre zum Wachsen, aber es dauert nur zwanzig Minuten, ihn zu fällen.« Damit war die Sache für Frau Wilson erledigt. Nur ein kleines Stück des Gartens hatte sie unangetastet gelassen. Das war das Fleckchen zur Kirche hin. Im Mittelalter hatte es neben der Kirche ein Franziskanerkloster gegeben, und an dieser Stelle hatten die Mönche einen Garten mit Heil- und Würzkräutern gepflegt. Ein alter gepflasterter Weg, in dessen Ritzen sich nach Äpfeln duftende römische Kamille und schwarze Veilchen ausbreiteten, führte dorthin. Roter Sonnenhut, Alraune und Nachtviolen hießen die Besucher willkommen, bei denen es sich oft um Schmetterlinge und dieschwarze Katze des Nachbarn handelte, die sich wollüstig auf den sonnenwarmen Steinplatten räkelte.
Unkraut hatte sich von diesem Teil des Gartens auf fast merkwürdige Weise ferngehalten, und daher ließ ihn Frau Wilson, zumal sie ihn als Erbe eines der Vorbesitzer betrachtete, in Ruhe. Die Pflanzen waren schon da gewesen, als sie und ihr Mann das Haus gekauft hatten. Die Robustheit des Rosmarinbuschs in Kombination mit der Tatsache, dass sich die Kugelsamige Platterbse und das Basilikum hier so wohl fühlten, verblüffte sie noch immer. Die Pflanzen standen zwar an der Südseite und im Schutz der Kirchenmauer, aber trotzdem. Die Platterbse war eine botanische Sensation gewesen, als man sie so hoch oben im Norden entdeckt hatte. Das Basilikum brauchte eigentlich Unmengen von Licht und hätte in dem alten Klostergarten
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