Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
zurückzuschwimmen. Sie hatten bereits den Hinweg nur mit Mühe und Not geschafft. Es war das einzige Mal, dass Tante Astrid richtig böse auf sie wurde. Astrid hatte in der letzten Ferienwoche auf der Insel die Verantwortungfür sie gehabt. Vendelas und Rickards Eltern, die wieder arbeiten mussten, erfuhren nie von dem Vorfall, der Gott sei Dank gut ausgegangen war.
»Du musst endlich lernen zu tauchen«, sagte Charlie, während er auf die Felsen kletterte. Er legte sich das Handtuch über die Schultern. Vendela stieg aus dem Wasser und setzte sich neben ihren Sohn.
»Dein Vater ist ein guter Taucher.«
»Ich weiß.«
Sie wrang ihr Haar und flocht es zu einem Zopf. In ihrer Jugend war sie im Sommer immer weißblond geworden. »Engelchen« hatte Astrid sie dann immer genannt. Mittlerweile wurden nur noch einzelne Strähnchen heller und erinnerten noch im Herbst an den Sommer auf Klöverö. Ihr Sohn war jedoch schon hellblond und hatte eine gesunde Bräune.
»Geht es dir gut, Charlie?«
»Hör auf, Mama.«
»Nerve ich dich?«
»Ständig, ey.«
Vendela verkniff sich die Bemerkung, dass sie das Wort »ey« verabscheute. Sie wollte so gern, dass er sich auf Klöverö wohlfühlte. Natürlich war es nicht besonders aufregend, mit der Mutter, dem Onkel und dessen Frau hier zu sein, aber vielleicht machte es ihm ja Spaß, bei der Renovierung zu helfen und Verantwortung zu bekommen. Außerdem war es eine Erleichterung, dass man die Insel nicht so einfach verlassen konnte. Hier konnte er sich nicht trollen und mit seinen Freunden herumhängen. Jessica hatte einen wunden Punkt angesprochen, als sie die Vermutung äußerte, Charlie hätte sich auf den Weg nach Göteborg gemacht. Vendela zeigte auf die südliche Hafeneinfahrt und die Badeanstalt beim Strandverket.
»Guck mal, die vielen Leute.« Kurz darauf bereute sie schon, dass sie es gesagt hatte. Was, wenn ihm plötzlicheinfiel, dass er sich langweilte, weil er hier so allein war.
»Vielleicht sollten wir langsam zurückgehen. Rickard und Jessica haben bestimmt das Essen fertig.«
»Jessica? Machst du Witze? Als ob die kochen würde.«
»Stimmt, du hast recht. Die Arbeit hat wahrscheinlich mein Bruder übernommen.«
Auf halbem Weg kam ihnen Astrid entgegengeradelt.
»Willst du noch mal baden?«, fragte Charlie erstaunt.
»Nein, nein«, antwortete Astrid und fuhr im selben Atemzug fort: »Im Alten Moor haben sie eine Leiche gefunden.«
»Eine Leiche?« Charlie sah Astrid fasziniert an. Sie nickte. Vendela schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Wissen sie, wer es ist?«, fragte sie.
»Keine Ahnung, aber ich glaube nicht. Ich weiß nur, dass die Botanische Vereinigung Göteborg von der Polizei zurück nach Koö gebracht wird. Also muss ich das nicht machen.«
»Eine Leiche im Alten Moor«, murmelte Vendela. »Ist denn im Laufe des vergangenen Jahres jemand verschwunden?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»Wir waren gerade auf dem Weg nach Hause. Du kannst uns gern begleiten.«
»Tja, ich bin ja vorhin am Hof vorbeigekommen. Die Frau von Rickard, wie heißt sie noch mal?«
»Jessica.«
»Genau. Die ist jedenfalls ganz hysterisch geworden. Die kann überhaupt nichts vertragen. Was will dein Bruder mit der?«
»Das kann ich dir sagen«, meldete sich Charlie zu Wort. »Ich höre die beiden nachts.«
»Hör auf, Charlie«, sagte Vendela. »Hast du ihnen das erzählt?«
»Klar.«
»Wir müssen zurück. Möchtest du mitessen?«
»Danke, meine Liebe, aber ich komme ein andermal.« Astrid strich Vendela über die Wange und klopfte Charlie auf die Schulter. »Mach keinen Unsinn.«
»Du auch nicht«, erwiderte Charlie. Astrid grinste.
Vendela und Charlie hörten die aufgebrachte Jessica schon von Weitem.
»Meine Güte, Rickard! Eine Leiche! Sie haben hier draußen eine Leiche gefunden.«
»Jetzt beruhige dich mal, Jess. Das war auf der anderen Seite der Insel, dahin braucht man zu Fuß eine Stunde. Wäre so etwas zu Hause in London passiert, hättest du gar nicht reagiert.«
»Wir befinden uns aber auf einer Insel. Jemand ist mit dem Boot gekommen und hat vielleicht an unserem Steg angelegt oder ist an unserem Haus vorbeigegangen. Das Opfer hätte genauso gut ich sein können.«
»Eigentlich schade, dass es anders gekommen ist«, sagte Charlie zu seiner Mutter.
»Sei still, Charlie!«, zischte Vendela, konnte sich ein Lächeln jedoch nicht verkneifen.
Rickard stellte gerade die Salatschüssel auf den Tisch, als Vendela und Charlie um die Ecke
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