Die Tote von Buckingham Palace
denn Dunkeld sah kurz zu ihm hin und fragte Narraway schroff: »Was ist mit Ihrem Mann da? Kann man sich auf seine Verschwiegenheit verlassen? Und hat er das Zeug, eine so delikate Angelegenheit zu
handhaben? Sie muss auf jeden Fall in aller Stille erledigt werden, denn sofern etwas davon an die Öffentlichkeit gelangte, würde das nicht nur unermesslichen Schaden anrichten, sondern könnte sogar die Sicherheit des Empires gefährden. Von unserem Verhalten hängt nicht nur das Wohl und Wehe der Finanzmärkte ab, sondern das Schicksal ganzer Völker.« Er sah Narraway an, als könne er ihm durch seine bloße Willenskraft die Folgen eines Fehlschlags vor Augen führen und ihn dazu veranlassen, die Situation richtig einzuschätzen.
Narraway zuckte mit einer kaum wahrnehmbaren eleganten Bewegung die Schultern. Er war deutlich schlanker als Dunkeld und trug seinen erstklassig geschneiderten Anzug so natürlich wie eine zweite Haut.
»Pitt ist mein bester Mann«, gab er zur Antwort.
Dunkeld schien davon nicht beeindruckt. »Auch verschwiegen?«, ließ er nicht locker.
»Der Staatsschutz beschäftigt sich ausschließlich mit Dingen, die geheim bleiben müssen«, entgegnete ihm Narraway.
Während Dunkeld sich Pitt zuwandte und ihn kühl musterte, stand Narraway auf. »Ich möchte mir die Leiche einmal ansehen«, sagte er.
Dunkeld holte tief Luft und stand ebenfalls auf. Er öffnete die Tür und ging den beiden durch den Gang mit seiner vergoldeten Stuckdecke voraus. Sie stiegen erneut eine breite Treppe empor, wandten sich oben nach rechts und gingen durch zwei Türen, bis sie zu einer dritten Tür kamen, an der ein junger Lakai vor ihnen Haltung annahm.
»Sie können jetzt gehen«, wies Dunkeld ihn an. »Warten Sie auf dem Treppenabsatz, bis ich Sie rufe.«
Nach einem beunruhigten Blick auf Narraway und Pitt entfernte sich der Lakai lautlos über den Läufer.
Fragend sah Dunkeld erst Narraway und dann Pitt an. »Was treiben Sie denn normalerweise so? Spione jagen? Verschwörungen aufdecken?«
»Wir untersuchen Mordfälle«, gab Pitt zur Antwort.
»Nun, hier haben Sie einen.« Mit diesen Worten öffnete Dunkeld die Tür zur Wäschekammer und trat beiseite.
Wortlos sah Pitt auf das Bild, das sich ihm bot. Narraway sog scharf die Luft ein und legte die Hand vor den Mund, als fürchte er, sich übergeben zu müssen.
Verwunderlich wäre das nicht gewesen. Die vollständig nackte Leiche lag auf dem Rücken. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten und den Unterleib so weit aufgeschlitzt, dass ihre Eingeweide herausquollen. Sie stachen seltsam bleich von dem dunklen Blut ab. Eins der gespreizten Beine war mit gebeugtem Knie leicht angehoben. Das lange braune Haar, das mit Nadeln hochgesteckt gewesen war, hatte sich wohl bei einem Kampf gelöst. Die weit offenen blauen Augen wirkten glasig, der Mund stand offen. Überall war Blut verspritzt, auf den Wänden, dem Fußboden und den sauber gestapelten Laken. Auch der Leib und die Hände der Toten waren voller Blut.
In Pitts Blick lag weniger Abscheu als Mitgefühl. Was hatte man dieser Frau angetan! Die Gefühlsrohheit des Täters hätte ihn sogar betroffen gemacht, wenn es um ein Tier gegangen wäre. Dass man einen Menschen auf diese Weise tötete, erfüllte ihn mit rasender Wut und rief in ihm das Bedürfnis wach, sich körperlich abzureagieren. Er atmete schwer, und die Kehle schnürte sich ihm zusammen.
Wie gerechtfertigt auch immer seine Gemütsbewegungen sein mochten, er durfte ihnen auf keinen Fall nachgeben. Nur mit einem klaren Kopf bestand Aussicht, den Täter zu ermitteln. Da der königliche Hof Tag und Nacht bewacht wurde, konnte er nicht einfach ungesehen von draußen gekommen und ebenso ungesehen wieder verschwunden sein. Innerlich schüttelte es Pitt beim Gedanken an die der Frau, dem Leben allgemein und der Residenz der Königin zugefügte Schändung. Es kostete ihn Mühe, das seelische Gleichgewicht zu bewahren.
Was konnte der Grund für eine solche Tat sein? Zweifellos war dazu nur jemand fähig, der nicht Herr seiner Sinne war, zumal an einem solchen Ort.
Narraway räusperte sich.
Pitt wandte sich ihm zu, sah seine blutleeren Lippen und die Schweißtropfen auf seinem Gesicht. Vermutlich hatte er noch nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen. Pitt hätte gern etwas gesagt, um das Entsetzen zu mildern, doch fiel ihm nichts ein. Vielleicht wollte er es auch nicht, denn angesichts einer solchen Handlungsweise gab es keine normalere Reaktion als
Weitere Kostenlose Bücher