Die Tote von Buckingham Palace
Zögern noch Furcht oder gar Mitgefühl sah, gab er notgedrungen nach, wobei er nur mühsam das Gesicht wahrte. Pitt war fest überzeugt, dass er sich rächen würde, sobald er eine Gelegenheit dazu sah.
»Ganz wie Sie wollen«, sagte er finster. »Kümmern Sie sich um die Angelegenheit. Können Sie dafür sorgen, dass man die Leiche mit einem neutralen Fahrzeug fortschafft, Sie wissen schon, mit einem, das so aussieht, als habe jemand etwas geliefert?« Die Art, wie er das sagte, machte deutlich, dass er damit Pitt nicht etwa um Hilfe bat, sondern seine Fähigkeiten in Zweifel zog.
»Sobald ich mir den nötigen Überblick verschafft habe«, gab dieser zur Antwort, »werde ich Mr Tyndale bitten, das Nötige zu veranlassen.«
Mit den Worten »Tun Sie das« machte Dunkeld auf dem Absatz kehrt und ging davon. Er schien vorauszusetzen, dass Narraway ihm folgen und Pitt weiter seiner Arbeit nachgehen würde.
Pitt zog das Laken beiseite, ließ es zu Boden fallen und sah sich die Tote noch einmal aufmerksam an. Er wollte versuchen sich vorzustellen, was geschehen war. Warum hatten die Frau und der
Täter diesen Ort aufgesucht? Womit war sie getötet worden? Den Wundrändern nach zu urteilen, dürfte es ein Messer gewesen sein, denn soweit er sehen konnte, handelte es sich um einen glatten Schnitt.
Auf der Suche nach der Waffe sah er sich aufmerksam um, tastete erst zwischen den sauber gefalteten und aufeinandergestapelten Wäschestücken herum, dann auf dem Fußboden unter der Leiche. Obwohl er die Suche mit größerer Sorgfalt wiederholte, fand er nichts, was als Tatwaffe infrage gekommen wäre. Und wo befand sich die Kleidung der Toten? Ganz gleich, welchen Ausschweifungen sich die Herren am Vorabend hingegeben haben mochten, dürfte die Frau kaum vollständig nackt in den Palast gekommen sein. Prostituierte gaben nur, wofür man sie bezahlte, und unbekleidet herumzulaufen gehört gewöhnlich ebenso wenig dazu wie zu küssen. Allerdings hatte er keinerlei Erfahrung mit Prostituierten, die einer so gehobenen Kundschaft zu Diensten waren.
Erneut betrachtete er aufmerksam die Leiche und suchte nach Blutergüssen, Abschürfungen oder sonstigen Verletzungen, die ihm einen Hinweis geben konnten, ob sie sich selbst ausgezogen oder man ihr die Kleider vom Leibe gerissen hatte, als sie noch lebte, oder ob sie erst nach ihrem Tod entkleidet worden war.
Die Ränder der Wunde an ihrem Unterleib waren deutlich weniger glatt als an ihrer Kehle, so, als sei der Schnitt durch etwas behindert worden. Das könnte ein Kleidungsstück gewesen sein. Vermutlich war es alles andere als einfach, einen über und über mit Blut bedeckten schlaffen Leichnam zu entkleiden, der sich überdies so gut wie nicht bewegen ließ. Wozu nur mochte man ihre Kleidung beseitigt haben? Was daran konnte so wichtig gewesen sein, dass sich der Täter diese Mühe gemacht hatte? War es etwas, das ihn hätte verraten können?
Sobald das Herz nicht mehr schlägt, hört das Blut selbst bei großen Wunden nach und nach auf zu fließen. Aus der Menge des Blutes auf den Laken und dem Fußboden zu schließen, war die Frau an Ort und Stelle umgebracht worden. Was aber hatte
sie in der Wäschekammer gewollt? Es gab keinen Grund, sich zu verstecken – schließlich hatte der Kronprinz ihre Anwesenheit im Palast gebilligt.
Und wenn sie das Gemach, in dem er sich trunken und seiner Sinne nicht mehr mächtig befand – falls er nicht sogar eingeschlafen war –, verlassen hatte, um sich noch etwas zusätzlich zu verdienen oder sich einfach mit jemandem an einem Ort zu vergnügen, an dem man ungestört sein konnte, zum Beispiel mit einem Dienstboten?
Pitt hielt es für sinnlos, in dieser Richtung nachzuforschen. Angenommen, es verhielt sich so – welchen Grund hätte dann der Täter gehabt, sie zu töten? Hatte sie mit Enthüllungen gedroht? Aber wer würde so etwas ernst nehmen? Ein Dienstbote höchstens dann, wenn er seine Stellung gefährdet sah. Würde der Kronprinz einen Bediensteten entlassen, weil sich dieser mit derselben Prostituierten amüsiert hatte wie er selbst? Und wenn es einer der Gäste gewesen wäre? Auch das hielt Pitt für wenig wahrscheinlich. Schließlich war den Gattinnen, als sie sich zurückzogen, durchaus bewusst gewesen, welcher Art die Gesellschaft war, die sie verließen. Sie mochten sich verletzt fühlen, wütend oder angewidert sein, doch würde sich keine Dame ihrer gesellschaftlichen Stellung dadurch der Lächerlichkeit und – schlimmer
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