Die Tote von Buckingham Palace
noch – dem öffentlichen Mitleid preisgeben, dass sie die Aufmerksamkeit auf unerwünschte Verhaltensweisen ihres Mannes lenkte.
Erneut erwog er die Möglichkeit, jemand aus der Dienerschaft könne der Täter sein. Hatte ihn die Frau dazu erpressen wollen, einen wertvollen Gegenstand zu stehlen, woraufhin er seinen Quälgeist lieber getötet hatte, als in diese Falle zu gehen? Nein, das ergab keinen Sinn und würde nie und nimmer die Grausamkeit der Tat rechtfertigen, die tiefen Schnitte durch die Kehle und im Unterleib. Ganz davon abgesehen, begab sich wohl niemand mit einem Messer von der hier verwendeten Art zu einem Stelldichein.
Am Tatort ließen sich keine neuen Erkenntnisse gewinnen. Pitt beschloss, rasch zu notieren, was er gesehen hatte, um bei Bedarf
eine Gedächtnisstütze zu haben, und anschließend einen Leichenwagen kommen zu lassen, damit die Tote abgeholt und dem Polizeiarzt zur Untersuchung gebracht wurde.
Auf der Treppe nach oben, wo er Narraway aufsuchen wollte, traf er Cahoon Dunkeld.
»Wo bleiben Sie nur, Mann?«, fragte Dunkeld mit finsterer Miene. »Ist Ihnen eigentlich nicht klar, dass die Sache äußerst dringend ist? Was ist mit Ihnen nur los?«
Was mochte den Mann zu einem so rüpelhaften Verhalten veranlassen, ging es Pitt durch den Kopf – Schuldbewusstsein, Verlegenheit, Angst? Oder hielt er es in seiner maßlosen Überheblichkeit für überflüssig, Menschen, die seiner Ansicht nach unter ihm standen, höflich zu behandeln?
»Vorwärts!«, gebot Dunkeld dem verärgerten Pitt. »Seine Königliche Hoheit erwartet Sie.« Er wandte sich um und ging voraus. »Ich nehme an, Sie haben veranlasst, dass die Leiche fortgeschafft wird, damit das Personal alles in Ordnung bringen und wieder Normalität einkehren kann? Und haben Sie bei Ihrer Suche einen Hinweis darauf gefunden, wer der Verrückte sein könnte?«
Ohne darauf einzugehen, hielt Pitt mit ihm Schritt. Obwohl sie gleich groß waren, unterschieden sich die beiden Männer in ihrem Körperbau deutlich. Dunkeld war breitschultrig, muskulös und schwerfällig, während sich der eher schlaksige Pitt durchaus gewandt bewegte. Er war glatt rasiert, wirkte aber dennoch ein wenig ungepflegt, weil er seine ungebärdigen Haare meist zu lang trug. Zwar achtete er inzwischen mehr auf seine Kleidung als früher, doch stopfte er nach wie vor so viel in die Taschen seines Jacketts, dass sie ganz ausgebeult waren und oft seitlich abstanden.
Nach wenigen Minuten stießen sie zu Narraway, der vor der Tür des Raumes wartete, in dem der Prinz von Wales sie empfangen sollte.
Pitts Ärger verflog, und mit einem Mal war er in höchstem Grade nervös. Er war dem Kronprinzen im Zusammenhang mit der Aufklärung der Morde in Whitechapel schon einmal begegnet,
rechnete aber nicht damit, dass sich dieser an ihn erinnern würde. Damals hatte die Aufmerksamkeit aller Charles Voisey gegolten, dem Mann, von dem es fälschlicherweise hieß, er habe den Thron unter großen persönlichen Opfern und Gefahren gerettet. Doch Voisey lebte nicht mehr, und die Sache gehörte der Vergangenheit an.
Mit zusammengepressten Lippen und düsterer Miene wandte sich Narraway ihnen zu, als sie eintrafen. Er hätte gern von Pitt Näheres erfahren, aber Dunkeld ließ ihnen keine Zeit, miteinander zu reden. Kaum hatte er angeklopft, wurde er eingelassen und schlug Narraway, der ihm folgen wollte, die Tür vor der Nase zu. Dieser wandte sich zu Pitt um und fragte: »Haben Sie etwas herausbekommen?«
»Schon, aber es ergibt alles keinen rechten Sinn.«
» Warum …« Weiter kam er nicht. Die Tür öffnete sich wieder, und Dunkeld forderte sie zum Eintreten auf.
Narraway trat als Erster in den Raum, in dessen Mitte der Kronprinz stand, ein wohlbeleibter, vollbärtiger Mann in mittleren Jahren. Abgesehen von seinen blassen Augen, deren äußere Winkel leicht herabhingen, gab es an seinem Gesicht nichts Bemerkenswertes. Seine Haut wirkte fleckig, seine Augen waren blutunterlaufen, und seine Hände zitterten unübersehbar. Vermutlich infolge der Ausschweifungen, denen er sich am Vortag hingegeben hatte.
»Königliche Hoheit«, begann Dunkeld, kaum dass die beiden Besucher eingetreten waren. »Darf ich Ihnen Mr Narraway vom Staatsschutz und seinen Mitarbeiter Pitt vorstellen? Sie sollen den unglückseligen Vorfall der vergangenen Nacht aufklären, und das so rasch wie möglich.« Er sah mit leicht gehobenen Brauen zu den beiden Männern hin.
Narraway neigte den Kopf ein wenig und
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