Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
PROLOG
BERLIN, MAI 1923
Die Hand legte sich wie ein Schraubstock über ihren Mund. Es ging so schnell, dass sie nicht reagieren konnte. Der Mann – es musste ein Mann sein, der Griff war sehr kräftig – zerrte sie in die dunkle Nische neben der Tür, in der ein Waschbecken angebracht war. Er presste sie gegen das kalte Emaille.
Henriette versuchte, klar zu denken, doch die Angst lähmte ihren Geist.
»Sie war bei dir«, knurrte eine Stimme an ihrem Ohr. »Ick bin ihr nachjeloofen.«
Er versetzte ihr einen Stoß. Im nächsten Moment schlug ihr Kopf gegen die Wand über dem Becken.
»Und nu isse tot.«
Henriette schluckte.
»Det Aas is tot, und ick steh alleene da mit die Kinder.«
Henriette stöhnte gedämpft auf. Er nahm die Hand weg, hielt ihren Körper aber weiter fest umklammert.
»Von wem sprechen Sie?«
»Frag nich so blöd«, wieder prallte ihr Kopf gegen die kalte Mauer. »Hast se doch zu dem Weib jeschickt, det ihr versaut hat!«
Henriette versuchte, ihre rasenden Gedanken unter Kontrolle zu bringen. »Wann soll sie bei mir gewesen sein?«
»Janz alleene«, sagte der Mann, ohne auf ihre Frage
zu antworten. »Jeblutet hat se, bis nüscht mehr in ihr drinne war.« Sie hörte ein unterdrücktes Schluchzen in seiner Stimme. »Die hat jehofft, det du ihr hilfst, und jetzt isse tot …«
Eine Ahnung überkam sie. Als sich sein Griff ein wenig lockerte, stieß Henriette hervor: »Ich erinnere mich an Ihre Frau. Ich habe ihr einen Arzt genannt, der sich um Frauen in Not kümmert. Warum sie nicht zu ihm gegangen ist, weiß ich nicht.«
Er riss ihren Kopf an den Haaren nach hinten und sagte dicht an ihrem Ohr: »Ick gloob dir keen Wort.«
In diesem Augenblick erklangen draußen auf dem Gehweg Schritte.
»Det wird dir noch leidtun«, zischte er und glitt so rasch davon, dass sie nur noch seine dunkle Gestalt im Hof verschwinden sah.
Sie atmete tief durch und blieb einen Moment reglos stehen. Dann rückte sie den Hut zurecht und trat auf den Gehweg.
1
HIDDENSEE, JULI 1923
Clara Bleibtreu wachte auf, als die ersten Sonnenstrahlen über das Bett tanzten. Sie reckte sich und genoss wie eine Katze die sommerliche Wärme, die durchs Fenster drang. Dann stützte sie sich auf einen Ellbogen und betrachtete den schlafenden Mann an ihrer Seite. Es war nicht ihre erste gemeinsame Nacht, aber alles erschien ihr jetzt ganz anders als sonst. Sie waren weit weg von Berlin, hatten die Großstadt mit ihrem Lärm und den Alltagssorgen hinter sich gelassen. Es war ein wunderbares Gefühl, von niemandem gestört zu werden, nicht mit einem Ohr auf die Türklingel oder das Telefon horchen zu müssen. Im Augenblick war Berlin mit seinem Elend, den politischen Unruhen und den bedrückenden Verbrechen weit weg.
Leo lag auf der Seite. Die dunklen Haare waren ihm ins Gesicht gefallen und verdeckten seine Augen. Auch die charakteristische Narbe, die ihr so vertraut geworden war, blieb verborgen. Clara ließ die Augen zärtlich über seine nackten Schultern und die schlanken, muskulösen Arme wandern und kam sich beinahe wie ein Voyeur vor, da sie die Verletzlichkeit des Schlafes ausnutzte, um Leo ungestört zu betrachten. Manchmal musste sie das tun, um wirklich zu begreifen, was mit ihr geschehen war.
Letztes Jahr im Sommer war Leo Wechsler zum ersten Mal in ihre Leihbücherei gekommen. Ein freundlicher, ein wenig distanziert wirkender Mann, der Lektüre für seine Kinder suchte. Sie waren einander sympathisch gewesen, aber auchscheu, da beide leidvolle Erfahrungen hinter sich hatten. Irgendwann hatte er von seinem Beruf als Kriminalkommissar erzählt, dem Leben mit zwei noch kleinen Kindern, deren Mutter während der großen Grippeepidemie nach dem Krieg gestorben war. Außerdem lebte seine unverheiratete Schwester bei ihnen, die ihm seither den Haushalt führte.
Clara hatte lange gezögert, bevor sie etwas von sich preisgegeben hatte. Sie sprach ungern über ihre unglückliche Ehe. Sie war schuldig geschieden worden, was zu einem Bruch mit ihrer Familie geführt hatte. Danach hatte sie sich ein neues Leben aufgebaut, in dem sie sich nur auf sich selbst verließ, hatte eine Schutzmauer errichtet, um nie wieder so tief verletzt zu werden. Leo Wechsler war der erste Mann, dem sie einen Blick hinter die Mauer gestattete. Eine zufällige Begegnung mit ihrem früheren Ehemann hatte sie schließlich dazu gezwungen, Leo die Wahrheit zu sagen, was ungeheuer befreiend gewesen war.
An einem Winterabend hatte
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