Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
sie ihn mit in ihre Wohnung genommen. Clara wusste, dass es auch in heutiger Zeit noch ungewöhnlich war, wenn eine Frau einem Mann zeigte, dass sie mit ihm schlafen wollte. Leo war anfangs sehr zurückhaltend gewesen, weil er von ihrer unglücklichen, von Gewalt und Rücksichtslosigkeit geprägten Ehe wusste; er wollte sie nicht verletzen. Irgendwann aber hatte ihre Lust die Furcht überwunden. Als sie nackt vor ihm gestanden und seine Hand auf ihre Brust gelegt hatte, war eine Welle über sie hinweggefegt und hatte sie von den Füßen gerissen.
In den vergangenen Monaten war Clara glücklicher gewesen als je zuvor und ahnte doch, dass es nicht immer so weitergehen konnte. Denn sie fühlte sich nie ganz frei, wenn sie Leo zu Hause besuchte, und scheute davor zurück, im Beisein seiner Schwester ihre Gefühle offen zu zeigen.
Die Tage auf Hiddensee waren von einer Unbeschwertheit, nach der sie süchtig zu werden drohte. Sie hatten gezögert,als unverheiratetes Paar zu verreisen. Dann aber war Clara auf Hiddensee verfallen, weil die Insel als Künstlerkolonie galt und man dort gewiss weniger strenge Maßstäbe anlegte. Sie hatte es nicht bereut. Leo ganz für sich allein zu haben, war eine Erfahrung, die sie zutiefst berührte.
Die Sonne schien warm durchs Fenster; ein Frühmorgenspaziergang wäre genau das Richtige. Clara stand behutsam auf und zog sich an, nahm die Schuhe in die Hand und schlich aus Leos Zimmer. Sie hatten getrennte Zimmer in der Pension genommen, um neugierige Fragen der Pensionswirtin zu vermeiden.
Im Haus war es noch still, nur aus dem Frühstückszimmer erklang das Klappern von Geschirr. Sie glitt leise an der Tür vorbei, damit Frau Sommer, die Besitzerin, sie nicht bemerkte.
Das kleine Seebad Vitte, in dem sich die Pension befand, bestand aus einer Ansammlung vereinzelter Häuser, umgeben von grünen Wiesen. Jenseits der Wiesen gab es nur noch den Strand und die Ostsee. Um diese Zeit war kaum jemand unterwegs.
Clara zog die Schuhe gar nicht erst an und genoss es, das frische Gras, auf dem der Tau schon getrocknet war, unter den Füßen zu spüren. Der Sand war kühl, feucht und angenehm fest. Sie ging bis ans Wasser und blieb stehen, bis sie allmählich einsank, während die Brandung ihre Knöchel umspülte. Sie bückte sich und hob ein paar Muscheln auf, die wollte sie für Georg und Marie, Leos Kinder, mitnehmen. Auf ein Stückchen Bernstein hatte sie auch gehofft, war bis jetzt aber noch nicht fündig geworden. Dann musste sie eben eines im Andenkenladen kaufen.
Im Weitergehen wäre sie fast mit einer Frau zusammengeprallt. Clara war so versunken gewesen, dass sie sie gar nicht bemerkt hatte.
Die Frau stand auf einem Bein, die Arme über den Kopferhoben, die Fingerspitzen aneinandergelegt, und schaute Clara gelassen an. »Ein wunderschöner Morgen für einen Spaziergang.«
»In der Tat. Bitte verzeihen Sie, wenn ich störe, ich war in Gedanken.«
»Es ist ja nichts passiert.«
Die Frau mochte Ende dreißig sein. Am auffallendsten war ihr goldbraunes, seidig schimmerndes Haar. Sie trug es lang, aber nur lässig im Nacken zusammengesteckt. Ihr schlichtes weißes Kleid schien dem Haar den Vortritt zu lassen, sodass es alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Frau hatte eine tiefe Altstimme, die ein wenig heiser klang. Als Clara genauer hinschaute, bemerkte sie die kleinen Fältchen an Augen und Mundwinkeln und korrigierte ihre Schätzung auf einige Jahre über vierzig. Kein schönes, aber ein ausdrucksvolles Gesicht, ein Gesicht, an das man sich erinnerte.
Sie wollte weitergehen, doch die Frau setzte den zweiten Fuß auf den Boden und machte einen Schritt auf sie zu. »Ich bin ohnehin fertig. Was gibt es Schöneres als Yoga am Strand?«
Clara hatte einmal von Yoga gelesen, aber nie gesehen, wie jemand es praktizierte.
»Eine asiatische Kunst, nicht wahr?«
»Ja. Das war die Baum-Position«, erklärte die Frau und streifte die weißen Leinenschuhe über, die neben ihr im Sand standen.
»Sind Sie schon einmal in Asien gewesen?«
»Ja, vor langer Zeit. Ich habe dort Yoga gelernt. Hier mag es exotisch wirken, aber in vielen Ländern gehört es zum Alltag.« Die Frau breitete impulsiv die Arme aus, als wollte sie Meer und Strand umfangen. »Schauen Sie nur – außer uns kein Mensch, so weit man sehen kann, keine Eisverkäufer und Limonadenhändler, nicht einmal ein Fischer …«
»Sind Sie eine Menschenfeindin?«, fragte Clara leicht belustigt.
»Keineswegs, aber wenn man das
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