Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
Seit rund dreißig Jahren stand er im Polizeidienst, hatte sich aber nie daran gewöhnt, dass Fälle veranlassten, früh aufzustehen, denn Warden war ein typischer Morgenmuffel. Wenn er dann noch aus dem Bett gerissen und zu einem Tatort gerufen wurde, wo offensichtlich kein Verbrechen begangen worden war, dann senkte das seine ohnehin schlechte Laune um ein Vielfaches. „Meine Liebe“, sagte er, wobei er das zweite Wort übertrieben betonte, „halten Sie es für besonders witzig, uns alle hier zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett zu holen? Ich kenne Sie nicht, denke jedoch, dass Sie sich in ärztliche Behandlung begeben sollten, mit Halluzinationen ist nicht zu spaßen.“
Aus den Augenwinkeln sah Mabel, wie das Hausmeisterehepaar einen zustimmenden Blick tauschte, sie ließ sich jedoch nicht verunsichern, denn sie wusste, was sie nicht nur gesehen, sondern auch gefühlt hatte.
„Sie können sich Ihren Spott sparen, Chefinspektor. Hier lag eine tote junge Frau, und als Krankenschwester habe ich in meinem Leben weiß Gott mehr Tote gesehen und berührt, als mir lieb ist. Das Mädchen hatte weder Puls- noch Herzschlag, zudem war ihre Zunge geschwollen und quoll aus dem Mund und …“
„Hör auf, solch schreckliche Sachen zu sagen!“, rief Abigail und presste beide Hände auf die Ohren. „Ich habe keine Ahnung, was das alles hier zu bedeuten hat, hier liegt jedoch niemand. Egal, ob tot oder lebendig.“
„Ganz meine Meinung“, brummte Warden und gab den Uniformierten einen Wink. „Gehen wir wieder, vielleicht bekommen wir noch eine Mütze Schlaf. Aber für Sie …“, er sah Mabel grimmig an, „wie war noch mal Ihr Name?“
„Miss Mabel Clarence, ich bin zu Besuch auf Higher Barton.“
Wardens Blick ging zu Abigail. „Sie können die Identität dieser … Dame bestätigen?“
Abigail nickte und sagte kühl: „Es handelt sich um meine Cousine aus London.“
„Also, Miss Clarence, die Sache wird ein Nachspiel haben.“ Verärgert zog Warden die Stirn kraus. „Auf ein unnötiges Alarmieren der Polizeibehörde steht ein Bußgeld. Sie werden von uns hören.“
Mabel war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, als sich die drei Beamten dem Ausgang zuwandten.
„Ich schwöre, noch vor einer knappen Stunde lag hier eine Leiche!“
„Miss Clarence ist den ganzen gestrigen Tag von London hergefahren und musste wegen einer Autopanne die Nacht im Wagen verbringen“, mischte George Penrose sich ein. „Offenbar ist die Dame übermüdet und ihre Nerven spielten ihr einen Streich. Es tut uns sehr leid, Sie unnötig nach Higher Barton bemüht zu haben.“
„Ich bitte Sie ebenfalls um Verzeihung, Inspektor“, fuhr Abigail fort. „Ich werde mich um meine Cousine kümmern. Darf ich Ihnen als kleine Entschädigung für Ihre Mühe einen Kaffee oder Tee und ein leichtes Frühstück anbieten?“
Einer der uniformierten Polizisten wollte gerade „sehr gerne“ sagen, immerhin hatte er die ganze Nacht über Dienstgehabt, als Warden mit zusammengezogenen buschigen Augenbrauen unwillig abwinkte.
„Danke nein, ich habe hier schon zu viel Zeit vertrödelt. Kommen Sie, Officer, wir gehen.“
„Wollen Sie denn nicht einmal nachsehen, ob Spuren zu finden sind?“, rief Mabel. „Offenbar wurde die Leiche in der Zeit, als ich Hilfe holte, weggebracht und …“
Warden sah sie streng an.
„Gehen Sie ins Bett und schlafen Sie sich aus, Miss. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Lesen Sie weniger Kriminalgeschichten, dann sehen Sie auch keine Toten, wo es keine gibt.“
Wie ein begossener Pudel blieb Mabel in der Bibliothek zurück und hörte, wie George Penrose die Polizisten verabschiedete und sich erneut wortreich entschuldigte. Abigail Tremaine seufzte und sah Mabel kopfschüttelnd an.
„Ich muss schon sagen, dramatischer hättest du unser Wiedersehen nicht gestalten können, Cousine, aber lass uns später miteinander sprechen. Ich lege mich noch ein paar Stunden hin. Es ist spät geworden gestern. Emma Penrose wird dich in dein Zimmer führen, es wäre gut, wenn du auch etwas schläfst. Wir beide sind schließlich nicht mehr die Jüngsten, da können einem die Nerven schon mal einen Streich spielen.“
Mabel trat zu ihrer Cousine, legte eine Hand auf ihren Arm und sah sie eindringlich an.
„Bitte, Abigail, du
musst
mir glauben! Als ich vorhin die Bibliothek betrat, war da eine tote Frau. Komm, lass und nachsehen, ob noch irgendwelche Spuren zu finden sind, wenn es die Polizei schon nicht tun
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