Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
Stunde strammen Fußmarsches erreichte Mabel den kleinen Ort, dessen Zentrum sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hatte. Weißgekalkte ein- oder zweistöckige Steinhäuser scharrten sich um den Marktplatz mit der mittelalterlichen Markthalle, einem Pub, zwei Teestuben und kleinen Geschäfte, die alles für den täglichen Bedarf aber auch Souvenirs für Touristen anboten. Alle Geschäfte kamen ohne großflächige Schaufenster aus, wirkten dadurch wie aus einer vergangenen Zeit und ließen einen fast vergessen, dass man sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befand. Lower Barton hatte sich seinen ursprünglichen Charakter bewahrt, wenngleich in den letzten Jahren immer mehr Touristen hierherkamen. Der Ort lag nur wenige Meilen vom Meer entfernt, war aber nicht so überlaufen und teuer wie Polperro oder East Looe, in denen sich ein Hotel und ein Bed and Breakfast an das andere reihte. Mabel bemerkte, dass sich die Bäckerei und der Metzger immer noch in denselben Häusern befanden wie vor vierzig Jahren. Außerhalb des Ortskerns waren allerdings Neubaugebiete mit Reihenhäusern, die einander wie ein Ei dem anderen glichen, und hinter der Kirche ein großer, moderner Supermarkt mit einem weitläufigen Parkplatz entstanden. Direkt daneben befand sich ein vierstöckiger Neubau aus Stahl und Glas, der trotz der anderen Neubauten in dem historischen Gesamtbild störend wirkte. In dem modernen Gebäude fand Mabel die örtliche Polizeistation.
Der Polizist sah auf, als Mabel eintrat und an die Glasscheibe klopfte, die die Büroräume vom Eingangsbereich trennte. Es war einer der beiden Officer, die am Morgen aufHigher Barton gewesen waren, und seinem Blick war anzusehen, dass er über Mabels Erscheinen wenig erfreut war.
„Was wünschen Sie, Miss … äh …?“
„Clarence, mein Name, Sir. Ich würde gerne mit Inspektor Warden sprechen, wenn er im Haus ist.“
Der Mann zögerte, griff dann aber doch zum Telefonhörer und sagte ein paar Worte, die Mabel nicht verstehen konnte. Dann legte er auf, nickte ihr zu und betätigte den elektronischen Türöffner, damit Mabel eintreten konnte. Sie folgte ihm durch das Büro zu einer Tür, die er nach kurzem Klopfen öffnete.
„Miss Clarence, Chefinspektor.“
Warden saß hinter einem riesigen Schreibtisch voller Papiere und sah Mabel unwillig an.
„Was führt Sie zu mir, Miss?“
Seine Stimme war wie seine Körperhaltung ablehnend, und Mabel konnte sich vorstellen, dass er sich fragte, was die verrückte Alte wohl hier wollte. Sie ließ sich aber nicht beirren, nahm den Stofffetzen aus ihrer Tasche und legte ihn auf Wardens Schreibtisch.
„Bitte, Sir, ein Beweisstück.“
Er runzelte die Stirn und blaffte: „Was soll das sein? Ein Fetzen Stoff? Wir sind hier keine Lumpensammler.“
Mabel atmete tief durch und zählte innerlich bis zehn, bevor sie ruhig, aber eindringlich sagte: „Es handelt sich um ein Stück aus dem Kleid, das die tote Frau trug. Ich fand es heute Morgen an der Terrassentür. Als der Täter die Leiche hinausschaffte, muss sich ihr Rock an der Tür verfangen haben. Dabei ist das Stück herausgerissen.“
Warden schloss für einen Moment die Augen. Grundsätzlich war er ein höflicher Mensch und hatte in seinem Berufsleben so manches Mal mit schrägen Typen zu tun,diese Frau jedoch ging ihm gewaltig auf die Nerven. Mühsam beherrscht sagte er: „Sie beharren also weiterhin darauf, auf Higher Barton eine Tote gesehen zu haben? Auch wenn alles dagegen spricht?“
„Bei allem Respekt, Sir, aber ich hatte Sie gebeten, die Bibliothek nach eventuellen Spuren zu untersuchen, was Sie allerdings ablehnten. Zu Unrecht, wie Sie sehen, denn dann hätten Sie den Stofffetzen selbst gefunden. Ich bin überzeugt, im Garten müssen Fußspuren vorhanden sein, denn durch den Regen der letzten Nacht ist das Erdreich aufgewühlt. Ich denke, der Täter hat die Leiche irgendwo im Garten versteckt oder inzwischen vergraben, darum …“
„Es ist genug, Miss Clarence“, unterbrach Warden ihren Redefluss mit erhobener Hand. „Lady Tremaine ist eine der angesehensten Persönlichkeiten der Gegend, ihren verstorbenen Gatten kannte ich gut, darum ist es infam anzunehmen, dass sie etwas mit einem Tötungsdelikt zu tun haben könnte.“
„Das habe ich auch nie behauptet“, brauste Mabel nun auf, denn ihre Geduld neigte sich dem Ende zu. „Nichts liegt mir ferner, als anzunehmen, meine Cousine könnte in den Fall verwickelt sein. Vielleicht wissen Sie, dass
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