Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
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Zum ersten Mal in ihrem Leben bedauerte Mabel, kein Handy zu besitzen.
„Heutzutage gehört ein Mobiltelefon ebenso wie ein Lippenstift in die Handtasche einer jeden Frau“, hatte ihre ehemalige Kollegin und Mitbewohnerin Henny gesagt, als Mabel sich strikt weigerte, sich solch ein technisches Gerät anzuschaffen.
„Ich sehe nicht ein, jederzeit und überall erreichbar zu sein“, konterte Mabel. „Als Krankenschwestern waren wir immer in Rufbereitschaft, darum bin ich jetzt froh, meine Ruhe zu haben. Warum hätte ich sonst in Rente gehen sollen?“
Bisher hatte Mabel Clarence ein Handy nicht vermisst, jetzt musste sie jedoch zugeben, dass so ein Mobilteil durchaus seine Vorteile hätte. Wenn man nämlich mitten in der Nacht bei einem Gewitter und bei sintflutartigen Wolkenbrüchen mit leerem Tank irgendwo auf einer Landstraße, die kaum diesen Namen verdiente, festsaß und man keine Ahnung hatte, wo man sich überhaupt befand. Über ein Navigationssystem verfügte Mabels zehn Jahre alter Vauxhall natürlich auch nicht. Das war bisher ebenfalls nicht nötig gewesen, denn Mabel war eine gute Kartenleserin. Auch heute hatte sie sich nach der Straßenkarte und zusätzlich nach der Wegbeschreibung gerichtet, die sie von ihrer Cousine erhalten hatte:
Bei Launceston die A30 verlassen und auf die B3254 einbiegen, South Petherwin passieren, bei Congdon’s Shop links halten, an der zweiten Gabelung nach rechts abbiegen bis zu einer T-Kreuzung, an dieser nach links, dann zweimal wieder rechts
…
Mabel hatte sich strikt an die Anweisungen gehalten, außerdem war sie nicht zum ersten Mal in Cornwall. Ihr letzter Besuch lag allerdings über vierzig Jahre zurück, und seitdem war das Straßenbauamt fleißig gewesen. Früher, da war die A30 – die Hauptverbindung zwischen Exeter und Land’s End, dem westlichsten Punkt der britischen Insel – eine schmale, kurvige und beschauliche Landstraße gewesen, die sich an normannischen Kirchen vorbei und durch liebliche Dörfer und einige größere Städten geschlängelt hatte. Heute durchschnitt die vierspurige Bundesstraße die Grafschaften Devon und Cornwall wie ein Graben. Das brachte zwar die zahlreichen Touristen, die wie Heuschreckenschwärme jeden Sommer in Cornwall einfielen, schneller zu ihren Ferienorten an den Küsten, zerstörte aber auch die wildromantische Landschaft. Verließ man jedoch die Hauptstraße, so fand man sich in einem Gewirr von engen, gewundenen Sträßchen mit zahlreichen unbeschilderten Kreuzungen wieder. Mabel hatte jedenfalls nirgends ein Schild, das auf die Ortschaft Lower Barton oder das Herrenhaus Higher Barton, ihrem eigentlichen Ziel, hinwies, entdecken können.
Mabel Clarence war eine praktische Frau, die sich mit den Gegebenheiten abfand. Das hatte das Leben sie gelehrt. Wenn sie jetzt nervös oder zornig auf das Lenkrad schlagen würde, änderte es nichts an der Tatsache, dass sie sich verirrt hatte. Warum hatte sie nicht früher auf ihre Tankuhr gesehen und bemerkt, dass das Benzin nur Neige ging? Mabel ärgerte sich über ihren Fehler und musste versuchen, nun das Beste aus der Situation zu machen. Da es bereits dunkel war, Blitze über den Himmel zuckten und es in Strömen goss, machte es wenig Sinn zu versuchen, zu Fuß ein Haus zu erreichen, von dem aus sie ihre Cousine anrufen konnte.
„Dann findet die Party eben ohne mich statt“, sagte Mabel laut zu sich selbst und eigentlich empfand sie kein Bedauern darüber. Seit sie vor zwei Wochen die Einladung von Abigail zu deren sechzigsten Geburtstag erhalten hatte, war Mabel durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen.
Keiner weiß, wie lange wir noch auf dieser Erde sind, darum sollten wir die Vergangenheit ruhen lassen. Es ist mein sehnlichster Geburtstagwunsch, Dich noch einmal sehen zu können, und dass Du mir sagst, dass du mir verziehen hast
…
Dieser handschriftliche Zusatz stand unter der gedruckten Einladung, und Mabel hatte die steile, eckige Schrift ihrer Cousine sofort erkannt, auch wenn sie diese seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Damals waren von Abigail regelmäßig Briefe gekommen, oft ein-, zweimal die Woche, aber Mabel hatte alle Schreiben ungeöffnet verbrannt. Mabel wollte mit ihrer Cousine nichts mehr zu tun haben, vor allen Dingen nicht wissen, wie sie an Arthurs Seite auf Higher Barton lebte. Zu tief waren der Schmerz und die Enttäuschung über das, was sie ihr angetan hatte. Ebenso wie sie Arthur niemals wiedersehen wollte. Arthur … Bei der
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