Die Tote von Schoenbrunn
Wienflusses. Der alte Kasper hatte sich das Geld buchstäblich vom Mund abgespart, um seinen gescheiten Sohn ins Gymnasium zu schicken und danach studieren lassen zu können. Rudi hatte sein Studium der Jurisprudenz in Mindestzeit absolviert, während Gustav, der mit ihm bereits das Gymnasium besucht hatte, wegen Betrügereien von der Universität geflogen war.
„Dieser Lucheni ist ein wütender, verzweifelter Mann, ein typischer Anarchist eben.“
„Und was wird nun mit ihm geschehen?“
„Nach der Jurisdiktion des Kantons Genf, der Lucheni untersteht, ist die Todesstrafe ausgeschlossen. Er hat also Glück gehabt oder er hat es gewusst. Egal. Ich nehme an, er wird zu dreißig Jahren Kerker verurteilt. Das Mordinstrument ist übrigens eine dreieckige einfache Feile, elf Zentimeter lang. Der obere Teil ist zugeschliffen und die äußerste Spitze abgebrochen. Der Griff ist ganz primitiv aus einem viereckigen Stück Fichtenholz geschnitzt. Auf dem Mordinstrument waren keine Blutspuren sichtbar. Trotzdem ist es eindeutig die Waffe, mit der die Kaiserin ermordet worden ist.“
Ein großer hagerer Mann mit einem dichten, sehr gepflegten grauen Schnurrbart betrat das Kaffeehaus, nahm seinen Hut ab und übergab ihn dem Garderobier.
Obwohl nicht mehr der Jüngste, war er ein auffallend gut aussehender Mann. Ein eigensinniges, intelligentes Gesicht, fein geschnittene Züge, tief liegende, dunkle Augen und volles graues Haar. Seine Ähnlichkeit mit Gustav war verblüffend.
Rudi hielt in seiner Schilderung inne und starrte Graf Batheny unverblümt an.
Gustav drängte zum Aufbruch.
Rudi, der die komplizierte Familiengeschichte seines Freundes kannte, zeigte Verständnis und rief: „Herr Ober, zahlen!“
Ausnahmsweise gerieten sie sich nicht in die Haare, wer von ihnen beiden die Rechnung begleichen dürfe. Gustav war bereits aufgesprungen, während Rudi noch auf das Restgeld wartete.
Als sie das Lokal verließen, mussten sie am Tisch des Grafen vorbei. Gustav nickte knapp. Rudi verbeugte sich tief vor Graf Batheny.
Vor dem Kaffeehaus verabschiedeten sich die beiden Freunde mit einem kurzen „Servus“ voneinander und gingen in verschiedene Richtungen.
Am Fuße des Denkmals der Kaiserin Maria Theresia zwischen den neuen Museen hockte eine Obdachlose. Gustav erkannte sie sogleich wieder. Es war dieselbe alte Hexe, die ihm gestern Abend beinah ein wenig Angst eingejagt hatte.
Sie sah ihm dabei zu, wie er einen großen Bogen um sie machte.
„So viele schöne Leichen“, kicherte sie.
Gustav reagierte nicht auf ihre Worte.
„Und es werden noch mehr sterben“, murmelte die Alte, die gar nicht so alt war, wie Gustav ursprünglich gedacht hatte. Wahrscheinlich war sie kaum älter als seine Tante.
„Er kennt keine Gnade. Er wird sie alle aufspießen.“
„Wer? Von wem redest du?“
„Vom Satan höchstpersönlich!“
Die ist komplett verrückt, dachte Gustav und ging weiter.
„Er holt sie alle zu sich in die Hölle!“, rief sie ihm nach.
5
Dorothea vermutete nach wie vor ein politisches Komplott hinter der Ermordung der Kaiserin und erging sich in allen möglichen Spekulationen. Vera schien nicht mehr so ganz von dieser Verschwörungstheorie überzeugt. Die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, ein Zigarillo in der rechten Hand, hörte Gustav den beiden aufmerksam zu.
„Wenn man sie damals ermordet hätte, zu der Zeit, als sie die ungarischen Aufständischen unterstützt und angeblich ein Verhältnis mit dem Grafen Andrássy gehabt hat, ja, dann würde ich dir Recht geben, dann könnte tatsächlich die österreichische Geheimpolizei ihre Finger mit im Spiel gehabt haben. Aber in den letzten Jahren war sie einfach nicht mehr präsent. Sie hatte jedes Interesse an Politik verloren“, sagte Vera.
Die Geheimpolizei respektive Staatspolizei war eine gefürchtete Organisation, über deren Aktivitäten allerlei schlimme Gerüchte im Reich kursierten.
„Ich glaube, sie litt unter einer tiefen Traurigkeit und war deswegen in den Augen der autoritätshörigen Beamten völlig unbrauchbar als höchste Repräsentantin des Kaiserreichs. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass gewisse reaktionäre Kräfte in diesem Land der Meinung sind, dass ein Vielvölkerstaat wie Österreich-Ungarn in schwierigen Zeiten eine starke Hand benötigt und keinen senilen, starrköpfigen Kaiser mit einer eitlen Schauspielerin als Freundin und einer Melancholikerin als Ehefrau“, sagte Dorothea.
„Kaiserin Elisabeth war
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